: Altes Eisen, graues Gold
Arbeitslos und über 50 – eine trostlosere Lage kann man sich kaum vorstellen, vor allem in Deutschland nicht. Da hilft nur noch, sich selbst zu helfen
VON ANNE SEITH
Es sieht ein bisschen nach erhängter Ente aus, das Stoff-Emu. Mit einem Plastikbändel um den Hals haben sie es an den Verkaufstresen gepinnt, da ist der Kopf nach hinten gekippt. Es klappt eben selten etwas genau so, wie man sich das vorgestellt hatte. Beim Namen fing es eigentlich schon an: das h im Logo verdankt der eMUH-online-service dem Rechtschreibfehler eines Grafikers.
Aber Wolfgang Nennemann und Marlies Maltzahn wollen optimistisch sein, ist doch mal was anderes, ein Emu mit h, sagen sie. Letzten Sommer haben sie das Unternehmen zu dritt gegründet, als ihre ABM-Stellen in einer Beschäftigungsgesellschaft für Jugendliche ausliefen. Ein Rundum-Dienstleistungsservice soll das kleine Büro im brandenburgischen Strausberg sein. Für Leute mit wenig Zeit übernimmt eMUH die eBay-Geschäfte, für alte Menschen werden billige Medikamente im Internet gesucht. Gerne geht das Trio auch Schnee schippen oder Pflanzen gießen, private Arbeitsvermittlung gehört zum Angebot und für Hermes nehmen sie Pakete an. Eigentlich machen sie alles, was Geld bringt.
Sie hatten damals die Wahl, sagt Wolfgang Nennemann: „eMUH oder in die Arbeitslosigkeit, mit dem Wissen, dass nichts passiert.“ Er ist braungebrannt, hat einen flotten Gang, trägt ausgewaschene Jeans und Turnschuhe, genau wie Marlies Maltzahn, die ihren sportlichen Kurzhaarschnitt blond gefärbt hat. Sie wollen endlich Perspektiven haben, sagen sie.
Aber Wolfgang Nennemann ist schon 57, Marlies Maltzahn fast 48. Und damit rutscht auch sie in den Statistiken der Arbeitsagentur bald in die Gruppe der über 50-Jährigen, die 35 Prozent der Langzeitarbeitslosen stellt. So was wie ein „typischer Fall“ ist sie wahrscheinlich jetzt schon. Sie arbeitete als Kindergärtnerin, bis der Hort 1995 geschlossen wurde. Seitdem hat sie eine Umschulung zur Groß- und Außenhandelskauffrau gemacht, bei Edeka an der Kasse gestanden, Staubsauger verkauft und die letzten zwei Jahre als ABM-Kraft bei der Beschäftigungsgesellschaft gearbeitet. Vor allem aber hat sie Arbeit gesucht. Einmal, „in einer schlechten Stunde“, hat sie alle Absagen durchgezählt. 227 waren es. Wie viele Unternehmen nicht einmal die Zeit für eine Antwort hatten, weiß sie nicht mehr.
Wolfgang Nennemanns Lebenslauf sieht nicht viel besser aus, zu DDR-Zeiten war er Lehrer, nach der Wende wurde er Erzieher. Eine Festanstellung hatte er, immerhin fünf Jahre. Den Rest der Zeit saß er auf irgendwelchen ABM-Stellen. Für ihn ist das Problem klar: „Mir haben sie schon vor Jahren gesagt, ich sei zu alt.“
Die deutsche Arbeitswelt: Weil die Sozialsysteme die vielen alten Menschen gar nicht mehr stützen können, fabulieren Experten jeder Couleur von längeren Lebensarbeitszeiten. Politiker werden eigentlich erst kurz vor dem Rentenalter ernst genommen. Aber auf dem regulären Arbeitsmarkt gehören Arbeitnehmer oft schon mit 45 zum alten Eisen.
Unternehmer suchen, wie zuletzt eine Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung bestätigte, bei Neueinstellungen fast ausschließlich junge Leute. Und auch von in die Jahre gekommenen Mitarbeitern trennen sie sich gerne. Nach OECD-Angaben verdienen weniger als 40 Prozent der 55- bis 65-Jährigen in Deutschland ihr Geld mit regulärer Arbeit – Jobs mit wenigen Wochenstunden inbegriffen.
Wolfgang Nennemann hat demnach mit seinen 57 Jahren statistisch gesehen kaum noch eine Chance, jemals wieder einen festen Job zu finden, „das Ergebnis von 20 Jahren fehlgeschlagener Arbeitsmarktpolitik“, sagt Professor Michael Burda von der Humboldt-Universität.
Vor allem die großzügig vom Staate geförderten Möglichkeiten, in den Vorruhestand zu gehen, brachten in den 90er-Jahren die Betriebe dazu, ganze Mitarbeitergenerationen in die Rente abzuschieben. Dann wurde Arbeitslosen ab 58 auch noch die Möglichkeit eingerichtet, auf die Vermittlungsversuche des Arbeitsamts zu verzichten. Ältere Arbeitnehmer bringen’s einfach nicht mehr so, schien auch die Politik sagen zu wollen.
Wenn sie so was hört, wirft Marion Thiem einen strengen Blick über ihre goldgeränderte Brille. Ihr wurde auch einst bei einer Bewerbung beschieden, sie sei als Verkäuferin zu alt. Da war sie Anfang 40. „Dabei flößen ältere Verkäuferinnen Vertrauen ein“, sagt Marion Thiem. Tatsächlich würde man der burschikosen Frau mit den rot gefärbten kurzen Haaren am liebsten den eigenen Hausschlüssel in die Hand drücken, damit sie in den Ferien nach dem Rechten sieht.
Vor fünf Jahren fand sie dann doch wieder eine Stelle, bei einem Netto-Markt in Hohenschönhausen. Seit Februar ist die heute 50-Jährige sogar Leiterin der Filiale, für die die dänische Supermarktkette als Reaktion auf den Jugendkult auf dem Arbeitsmarkt grundsätzlich nur Menschen über 45 einstellt.
Die Bilanzen aus Hohenschönhausen räumen mit vielen Vorurteilen gegen ältere Arbeitnehmer auf. Die Verkaufszahlen stimmen, die Ausfallzeiten wegen Krankheit sind nicht höher als sonst, der einzige Unterschied: aus Hohenschönhausen kommen weniger, dafür aber längerfristige Krankmeldungen.
Und dass ältere Arbeitnehmer langsamer lernten, sei ebenfalls eine Mär, sagt Jesper Christensen, Verkaufsleiter bei Netto. Er hat bei den internen Weiterbildungskursen, die er leitet, noch nie auf die Älteren besondere Rücksicht nehmen müssen, sagt Christensen, der selbst höchstens Mitte 30 ist. „Die Älteren können viel leichter aussortieren, was wichtig ist.“ Über die Herrschaft der Jugend in der deutschen Wirtschaft kann der Däne nur verwundert die hellen Augenbrauen heben. In Dänemark schätze man ältere Mitarbeiter viel mehr, „das graue Gold, sage wir dort“.
Das ist besonders beim Aufbau eines Unternehmens unersetzlich, bestätigt Rudolf Reichenauer. Für das neue BMW-Werk in Leipzig suchte der Leiter der Personalabteilung ausdrücklich auch Produktionsarbeiter, Ingenieure und Controller über 50. Weil ein erfahrener Maschinenbauer hört, wenn etwas nicht rund läuft, und zwar nicht erst wenn es knallt. Und weil ein erfahrener Abteilungsleiter schon öfter 20 Einzelkämpfer zu einem Team zusammengeschweißt hat. „Man kann doch nicht nur mit den jungen Wilden eine neue Fabrik mitten auf die grüne Wiese stellen“, sagt Reichenauer.
Solche Wertschätzung erfährt das „graue Gold“ in deutschen Führungsetagen allerdings sonst selten. Obwohl die Bundesregierung inzwischen nachzuhelfen versucht. Die Anreize, Mitarbeiter in den Vorruhestand zu entlassen, sind inzwischen erheblich ausgedünnt worden. Doch eine spürbare Wirkung wird Jahre auf sich warten lassen.
Mit Lohnzuschüssen, der Lockerung des Kündigungsschutzes und 50.000 neuen Ein-Euro-Jobs will das Arbeitsministerium ältere Arbeitslose außerdem in Lohn und Brot bringen. „Flickwerk“ nennt das Arbeitsmarktexperte Burda. Und von Weiterbildungsmaßnahmen wie in Finnland, wo Arbeitnehmer frühzeitig so breit qualifiziert werden, dass sie ab einem gewissen Alter auf andere Positionen wechseln können, wird hierzulande nicht einmal richtig geträumt.
Deshalb sorgen Wolfgang Nennemann und Marlies Maltzahn selbst für ihre Weiterbildung, durch Praxis. Im Internet kennen sie sich inzwischen wahrscheinlich besser aus als ihre Enkelkinder. Aber ein Spielplatz ist die Welt der Selbstständigkeit nicht, vor allem wenn man sie das erste Mal betritt. Weil, wie gesagt, nur selten etwas gleich so klappt, wie man sich das vorstellt.
„Die Sachen, die wir bei eBay für Kunden verkaufen, sind zum Beispiel zu wenig preisintensiv“, sagt Marlies Maltzahn. Zurzeit stehen Schuhe, Blusen, Spiele, eine quietschbunte Lampe in Ufoform und das Bastelvideo „Schablonen-Schwammtechnik-Maserierung“ im Warenlager. Eins der wenigen Angebote, an dem eMUH mehr als ein paar Cent verdienen wird, ist die Elektroorgel in der Ecke. Und Arbeitsvermittlung in einer Gegend mit einer Arbeitslosenquote an die 20 Prozent ist auch nicht gerade eine Goldgrube, denn die Prämie vom Staat gibt es nur im Erfolgsfall.
„Anfangs dachten wir, nach einem halben Jahr würde das Geschäft brummen“, sagt Wolfgang Nennemann und streicht sich über die sorgfältig nach hinten gekämmten grauen Haare. Inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt in das Büro mit den geliehenen Holzmöbeln. So um die 300 Euro wirft eMUH im Moment monatlich ab.
Weil das Überbrückungsgeld ausgelaufen ist, haben sie sich alle wieder arbeitslos gemeldet, sagt Nennemann. Bei der Arbeitsagentur haben sie ihm neulich angedeutet, dass er nach seinem 58. auf die Vermittlungstätigkeit ja verzichten könne. „Ich fühle mich aber noch nicht nach Ruhestand“, sagt er. Es klingt, als wolle er sich verteidigen.