Buchclubs: Der Club der stillen Dichterfreunde
In „Silent Book Clubs“ liest man gemeinsam und doch für sich allein, jede ihr eigenes Buch. Ist das seltsam oder gemütlich?

Es ist der letzte Donnerstag des Monats, und ich sitze über einen Roman gebeugt auf einem grünen Sofa. Um mich herum stehen volle Bücherregale, links neben mir taucht eine junge Frau in eine Fantasy-Welt ein, zu meiner Rechten liest eine Physiotherapeutin ihre Fachliteratur.
Acht weitere Personen sitzen mit uns in der Sitzecke der Bibliothek am Luisenbad in Berlin-Gesundbrunnen auf Couches und Holzstühlen und sind vertieft in ihre Bücher. Raschelnde Seiten, ein leises Atmen, ein kurzes Schlürfen in der Teetasse, ansonsten ist es still. Denn hier trifft sich einmal im Monat der „Silent Book Club“.
Das Konzept dieses Clubs ist simpel: Fremde Menschen kommen zusammen, um gemeinsam in Stille zu lesen. Anders als bei gewöhnlichen Buchclubs bringen alle ihre eigenen Bücher mit.
Lesen und dabei nicht allein sein? Ich finde den Gedanken befremdlich, im Beisein mir Unbekannter in ein Buch einzutauchen. Kann ich mich da überhaupt fallen lassen? Oder kann genau dadurch eine besondere Form von Gemeinschaft entstehen?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Vielleicht ist der stille Buchclub auch endlich meine Chance, wieder ein neues Buch zu entdecken. Denn so gern ich behaupten würde, dass ich oft stundenlang lese und mir kritische Kommentare in dicke Bücher schreibe – tatsächlich ist mein letzter Roman Monate her, und lasse ich mich zu gern von Reality-TV berieseln.
In der Bibliothek am Luisenbad sind die letzten Tagesbesucher gegangen. Das Licht ist gedimmt. Auf ein kleines Tablett hat Organisatorin Patricia Zielke warmen Apfelsaft, Gummibärchen und Bio-Limonaden gestellt, daneben eine Tulpe in einer kleinen Vase. Lümmeln, lesen und warmer Apfelsaft? Ich fühle mich an den Kindergarten erinnert.
Wer liest was?
Der Abend beginnt mit einer Runde, in der alle kurz erzählen, was sie an diesem Abend lesen wollen. „Ich habe ‚All about Africa. Was du über den Kontinent wissen solltest‘ dabei“, erzählt ein junger Mann Mitte zwanzig, er ist der einzige männliche Teilnehmer der Runde. Während er spricht, blickt er etwas unsicher auf den Boden. Er wolle mehr über „Afrika“ lernen, da habe er große Wissenslücken. Er erntet zustimmendes Nicken der Runde.
„Ich lese ‚22 Bahnen‘ von Caroline Wahl, eine Geschichte über eine Mathematikstudentin, die ihr Leben, das ihrer kleinen Schwester und ihrer alkoholkranken Mutter wuppt“, sage ich in die Runde. Das Buch hatte ich mangels Lektüre aus dem Regal meiner Mitbewohnerin gezogen, es erschien mir intelligent und massentauglich genug, um es mitzubringen. Einige kommentieren, dass sie es begeistert gelesen hätten oder es auf ihrer Leseliste stehe.
Thekla, Mitglied des Silent Book Club
Den stillen Leseclub gibt es seit Oktober. Meistens kommen um die 15 Menschen, der Großteil ist weiblich und um die 30. Ins Leben gerufen hat den Lesetreff die Bibliothekarin Patricia Zielke. „Im Vergleich zum klassischen Buchclub ist das etwas für viel beschäftigte Leute“, sagt sie.
Viele Teilnehmerinnen erzählen, dass ihnen im Alltag die Zeit zum Lesen fehle. „In meiner Freizeit schaffe ich es selten, weil ich ein kleines Kind zu Hause habe“, erzählt Teilnehmerin Thekla. Sie will den Abend nutzen, um in die Autobiografie einer Theatermacherin einzutauchen.
Anders als bei Lesekreisen, die gemeinsam ein Buch lesen, gebe es keinen Druck, bis zu einer bestimmten Seitenzahl zu kommen, da alle ihre eigenen Bücher mitbringen. „Hier heißt es: Mobilgeräte ausschalten und auf den Moment einlassen“, sagt Patricia Zielke. Besonders für introvertierte Menschen sei der stille Buchclub eine gute Möglichkeit, neue Kontakte zu knüpfen. „Man hat direkt den Anknüpfungspunkt Bücher und kann darüber ins Gespräch kommen.“
„Silent Book Clubs“ gibt es in über 50 Ländern
Entstanden ist die Idee des „Silent Book Club“ 2012 in San Francisco. Die Freundinnen Guinevere de la Mare und Laura Gluhanich organisierten in ihrer Nachbarschaft die erste Leserunde. Mittlerweile gibt es rund 1.500 Gruppen in über 50 Ländern.
Die Treffen werden ehrenamtlich organisiert, sind immer kostenlos und finden in Cafés und Büchereien statt. Beworben werden sie über soziale Netzwerke und Aushänge. In Deutschland konzentrieren sich die 32 Ortsgruppen auf größere Städte, doch auch in der 7.000-Seelen-Gemeinde Flintbek in Schleswig-Holstein trifft man sich regelmäßig zum stillen Lesen.
In der Bibliothek in Berlin sollen nun auch alle in ihre Seiten eintauchen. Patricia Zielke stellt einen Handywecker, der alle Lesenden nach einer Stunde aus ihrer Bücherwelt holen soll. Ich fühle mich unter Druck gesetzt, mich jetzt auf mein Buch einlassen zu müssen, und fange erst mal mit dem Klappentext an.
Hoffentlich muss ich nicht plötzlich niesen und unterbreche die Stille. Über meine Buchseiten beobachte ich die Runde. Die meisten wirken fokussiert und scheinen schon tief in einer Geschichte zu stecken, ein paar fangen meinen Blick ein. Ich gucke schnell woandershin, es soll schließlich niemand merken, dass ich mich nicht auf die Situation einlassen kann. Ich versuche, ein paar Zeilen zu lesen.
Erst als ich aufschrecke, weil der junge Mann hastig seine Jacke greift und die Runde verlässt, merke ich, dass ich tief in mein Buch versunken war. Musste er früher los, war ihm sein Buch zu langweilig oder konnte er sich auf seinem Holzstuhl nicht entspannen?
Ich jedenfalls bin deutlich ruhiger geworden, denn das gemeinsame Für-sich-Sein hat mich an wohlige Nachmittage im WG-Wohnzimmer erinnert. Ich genieße, dass hier Menschen um mich sind und ich nicht mit ihnen reden muss. Gemeinschaft kann so schön sein, wenn es keine Erwartung gibt, zu interagieren! Zu Hause würde ich meinen Lesefluss häufig unterbrechen, um einen Blick aufs Handy zu werfen. Aber weil niemand das macht, beherrsche ich mich. Tut gut, dem Lesen so viel Raum zu geben.
Düm, dü, dü, dü, düm. Gerade an einer spannenden Stelle hat nun der Handywecker geklingelt. Ich fühle mich ein bisschen, als würde ich nach einem Nickerchen aufwachen, und brauche kurz, um zu realisieren, wo ich gerade bin. Die anderen erzählen von ihren Büchern. Patricia Zielke liest eine Stelle vor, die sie bewegt hat. Es ist ein kurzes „Teilen“, aber ein Gespräch entsteht nicht.
Als sich dann alle verabschieden und auf den Heimweg machen, kommt mir das Ende zu abrupt. Ich war fest davon ausgegangen, im Anschluss in einer Kneipe zu versacken, angeregt über Literatur diskutierend. Aber hier scheint es einfach um eine kurze Pause vom Alltag zu gehen, in den dann alle nach einer Stunde zurückkehren. Es war gemütlich und harmonisch – aber auch ganz schön brav.
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