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Unendlich vermüllte Weiten

Um unsere Erde kreist immer mehr Schrott. Für wen ist das gefährlich? Und wer macht das wieder weg? Die wichtigsten Fragen und Antworten rund um Friedhofsbahnen, Aufräumroboter und tödliche Handschuhe

Im Jahr 2000 stürzte ein Raketenstück in der russischen Republik Altai vom Himmel Foto: Jonas Bendiksen/Magnum Photos/Agentur Focus

Von Enno Schöningh

Der gefährlichste Handschuh der Geschichte war ein weißes, optisch unaufdringliches Exemplar. Der Astronaut Edward White verlor ihn 1965 beim Aufbruch zu einem Weltraumspaziergang, und einmal aus der offenen Luke des Raumschiffs geschwebt, raste der Handschuh mit 28.000 Kilometern pro Stunde um die Erde. Bei solchen Geschwindigkeiten kann selbst so ein banaler Gegenstand zur tödlichen Waffe werden – oder Satelliten und Raumschiffe beschädigen.

Glücklicherweise verglühte der Handschuh einen Monat später in der Atmosphäre, ohne großen Schaden anzurichten. Dennoch warf er so einige Fragen zum Umgang mit menschlichem Müll im All auf, die seitdem immer drängender geworden sind.

Fangen wir ganz grundsätzlich an: Was genau ist überhaupt Weltraum­schrott?

Unter Weltraumschrott oder Weltraummüll versteht die Europäische Weltraumorganisation (ESA) unbrauchbare menschengemachte Objekte, die die Erde umkreisen. Das können ausgediente Satelliten, ausgebrannte Raketenstufen, aber auch kleine Metallteile und Farbpartikel sein, oder eben ein Handschuh.

Radaranlagen und Teleskope be­obachten nur den Schrott regelmäßig, der etwa 10 Zentimeter oder größer ist. Die ESA schätzt die Anzahl dieser großen Schrottteile auf über 40.000. Kleinerer Müll ist komplizierter aufzuspüren, da er nicht mit Teleskopen oder Radar­anlagen erfasst werden kann. Um seine Häufigkeit zu messen, sind andere Methoden nötig. So bringen zum Beispiel As­tro­nau­t:in­nen beim Austausch von Solarmodulen an Weltraumteleskopen die alten Solarmodule zurück zur Erde, wo sie im Labor auf Einschläge untersucht werden. Mit diesen Stichproben und statistischen Modellen lassen sich dann Hochrechnungen erstellen. Nach der letzten Schätzung der ESA für das Jahr 2024 kreisen um unsere Erde mehr als 130 Millionen Trümmerteile, die kleiner als ein Zentimeter sind.

Ist dieser kosmische Müll denn ein ­Problem?

Wie beschrieben, kann er die Sicherheit von Astronaut:innen, Raumschiffen und Satelliten gefährden. Und dass er das tut, wird zunehmend wahrscheinlicher. Erstmals beschrieben hat das der US-amerikanische Forscher Donald Kessler. Sein Kessler-Effekt ist im Grunde eine logische Annahme: Je mehr Schrottteile es gibt, desto häufiger kommt es zu zufälligen Kollisionen, aus denen wiederum mehr Schrottteile entstehen, die wiederum mit erhöhter Wahrscheinlichkeit miteinander kollidieren können. Eine kosmische Kettenreaktion.

Dass Kesslers Theorie keine Science-Fiction ist, zeigen zwei Zwischenfälle in den 2000er Jahren. 2007 brachte China eine Rakete auf dieselbe Umlaufbahn wie ihren Wettersatelliten und ließ die beiden absichtlich kollidieren, um den Fortschritt seiner Raketentechnologie zu testen. Dabei entstand ein riesiges Trümmerfeld. Am Ende des gleichen Jahres schwebten 2.000 größere Objekte mehr im All.

2009 kollidierte ein amerikanischer Satellit mit einem ausrangierten russischen Satelliten. Es gab zuvor zwar Warnhinweise der Weltraumbehörden, aber die Umlaufbahnen wurden nicht korrekt berechnet und die Kollision überraschte die Behörden. Auch hier entstanden rund 2.000 größere Teile aus einem einzigen Zusammenstoß. Der britische Astronaut Tim Peake schreibt in seinem Buch „Endet der Himmel, wenn das All beginnt?“, dass die Hälfte aller Beinahekollisionen im Weltraum ihren Ursprung in diesen beiden Vorfällen hatte.

Wie gefährdet ist eigentlich die internationale Weltraumstation ISS durch den Schrott auf der Erdumlaufbahn?

Die ISS ist ungefähr so groß wie ein Fußballfeld und kreist in 400 Kilometer Höhe um die Erde. Sie wurde von den besten Ingenieuren der Welt entwickelt – man sollte also meinen, dass ein zwei Zentimeter großes Metallteil der Raumkapsel nicht viel anhaben kann. Aber ein Einschlag ist ein Risiko, weil die unglaublichen Geschwindigkeiten im Weltraum selbst kleinste Partikel gefährlicher als Pistolenkugeln werden lassen. Deswegen hat die ISS Schutzschilde, teilweise aus dem gleichen ­Material wie kugelsichere Westen.

Durchdringt dennoch ein Trümmerteil diese Verteidigung, werden alle Luken, die das getroffene Modul mit den anderen Modulen verbinden, umgehend geschlossen. Durch den Druckverlust und die Temperaturschwankungen im Weltraum wird ein Modul mit Einschlagloch nämlich sehr schnell unbewohnbar. Falls sich das Problem nicht von der ISS aus beheben lässt und droht, außer Kontrolle zu geraten, wird die Besatzung evakuiert. Dafür steht ­jederzeit ein Rettungsraumschiff ­bereit. Wirklich passiert ist bisher nichts, allerdings fliegt die ISS immer mal kleinere Ausweichmanöver, wenn heranfliegender Weltraumschrott rechtzeitig erkannt wird.

Sind Weltraumspaziergänge durch den Schrott gefährlich?

Durchaus – zumal der Schrott ja nicht nur selbst rasend schnell durchs All fliegt, sondern auf As­tro­nau­t:in­nen trifft, die mit der ISS die Erde in anderthalb Stunden um­runden. Bei einem Treffer muss man beide Geschwindigkeiten addieren, um die Energie des Einschlags zu bemessen. Aber: Das Weltall ist groß und As­tro­nau­t:in­nen sind im Vergleich dazu winzig klein. Dass sie selbst getroffen werden, fällt in die Kategorie „hohes Schadenspotenzial, aber extrem unwahrscheinlich“, so der Astronaut und ehemalige ISS-Bewohner Tim Peake in seinem Buch.

Für den Fall der Fälle verfügt ein Raumanzug über eine ganze Reihe von Schutzschichten. Einige davon dienen ausschließlich dem Schutz vor Weltraumschrott. Werden diese durchbrochen, strömt Sauerstoff aus dem Loch ins All. Die Person im Raumanzug erhält eine Warnung und muss sich zügig zur Luftschleuse begeben. Ob der Restsauerstoff ausreicht, hängt von der Größe des Einschlaglochs und der Distanz zur Schleuse ab.

Wie riskant ist der Schrott für uns auf der Erde?

Einiger Weltraumschrott fällt schon jetzt regelmäßig auf die Erde. Denn grundsätzlich sinken die Teilchen auf erdnahen Umlaufbahnen Richtung Erde ab. Selbst in 1.000 Kilometer Höhe gibt es nämlich noch eine Restatmosphäre: Gasmoleküle, die einen Widerstand für alle Objekte bilden, die dort oben herumfliegen. Dadurch werden sie abgebremst und sinken Stück für Stück nach unten, bis die meisten von ihnen irgendwann in der Erdatmosphäre verglühen. Sie verbrennen durch die Reibungshitze in der dichten Luft.

Hinzu kommt, dass ausgediente ­Satelliten auf erdnahen Umlaufbahnen gezielt zurück zur Erde gesteuert werden. Beim Fallen werden auch sie so schnell, dass sie normalerweise beim Eintreten in die Erdatmosphäre verglühen. Doch so manches Bauteil besteht aus sehr widerstandsfähigem Material oder ist so groß, dass es nicht vollständig verbrennt. Wenn möglich, fällt dieser Schrott auf sogenannte Raumschifffriedhöfe. Der wohl bekannteste ist Point Nemo, ein Punkt im südlichen Pazifischen Ozean, zwischen Neuseeland und Südamerika gelegen. Er ist näher an der ISS als am nächsten Festland.

Zu Zeiten des Kalten Krieges fiel einmal ein sowjetischer Satellit, der radioaktives Material enthielt, auf kana­disches Territorium. Für solche Fälle gibt es im internationalen Weltraumrecht eine Haftungsklausel, sagt Jan Siminski, Wissenschaftler beim ESA-Büro für Weltraumsicherheit. „Die ­Sowjetunion hat damals dann auch für die Aufräumarbeiten bezahlt.“

Inwieweit kann der Weltraumschrott das Leben auf der Erde noch beeinflussen?

Ein weiteres Thema sei die Lichtverschmutzung im Weltall, sagt Jan Siminski. Die Zahl der Satelliten wächst, und irgendwann gäbe es dann keinen Nachthimmel mehr, sondern nur noch bewegte Punkte. „Die Astronomen beschweren sich schon, dass bei ihren Beobachtungen Satelliten durchs Bild fliegen und die Forschung stören“, sagt der Weltraumforscher.

Seit sich nicht nur Raumfahrt­agenturen, sondern auch Unternehmen für den Weltraum interessieren, nimmt die Zahl der Objekte im All noch stärker zu – und damit auch der Schrott

Außerdem: Mehr Müll und mehr Kollisionen bedeuten auch mehr ausfallende Satelliten. Dann können wir vorübergehend nicht fernsehen, unsere Smartphones nicht orten oder sehen nicht, wohin die Regenwolken ziehen. Kollidierende Satelliten sind heute zwar noch recht selten, aber mit der zunehmenden Anzahl an Satelliten könnten Ausfälle in Zukunft zum Problem werden.

Wer muss sich um den Schrott ­kümmern?

Offiziell niemand. „Es gibt keine einzige Regulation. Das ist der Wilde Westen“, sagt Jan Siminski. Tatsächlich gibt es keine international verbindlichen Gesetze, um Weltraumschrott zu vermeiden – lediglich Empfehlungen, zum Beispiel vom Inter-Agency Space Debris Coordination Committee (IADC). Dazu zählt etwa, dass ein ausgedienter Satellit nach 25 Jahren entsorgt werden soll, also entweder in die Atmosphäre eintreten und verglühen soll oder auf die sogenannte Friedhofsbahn gebracht wird. Man versuche zwar, aus den Empfehlungen Gesetze zu machen, so der Weltraumforscher. Doch vor allem auf internationaler Ebene habe das bisher nichts gebracht.

Kann man den Weltraum nicht ­einfach aufräumen?

Es gibt erste Versuche, über uns für Ordnung zu sorgen. Bei der ESA etwa versuche man in einem Pilotprojekt, alte Satelliten einzufangen und kontrolliert in der Atmosphäre verglühen zu lassen, erklärt Jan Siminski. Das aber sei teuer und kompliziert. Zunächst muss der Aufräumroboter die richtige Umlaufbahn erreichen. „Dort dreht sich das Objekt um sich selbst, das heißt, man muss sich dieser Drehung anpassen, um es mit Roboter­armen zu stabilisieren.“ Erst dann könnten beide ­Objekte kontrolliert zurück zur Erde gebracht werden, wo sie dann verglühen.

Das bedeutet aber auch: Man muss jedes Mal einen neuen Aufräum­roboter ins All schießen. Ein Stück Müll aufzuräumen bedeutet also einen zusätzlichen Start. Das ergibt nur Sinn für die gefährlichsten Objekte auf den am meisten vermüllten Umlaufbahnen.

Weltraumforscher Siminski bezweifelt, dass dies der richtige Weg ist. Ein guter Vergleich sei der Plastikmüll im Meer. „Es macht Sinn, den Ozean zu säubern – aber gleichzeitig werden unendlich viele Plastikteilchen aus allen Flüssen der Welt angeschwemmt. Am Ende ist immer mehr Plastikmüll da als vorher.“ Für Siminski käme es daher vor allem darauf an, weniger Raketen und Satelliten ins All zu schießen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Seit sich nicht nur Raumfahrt­agenturen, sondern auch private Unternehmen für den Weltraum interessieren, nimmt die Zahl der Objekte auf den Umlaufbahnen noch stärker zu – und damit auch der Schrott.

Was ist die Idee hinter der so­genannten Friedhofsbahn?

Auf 35.786 Kilometer Höhe ist viel los. Dort befindet sich die geostationäre Umlaufbahn, die zum Beispiel von Rundfunk- und Kommunikations­satelliten genutzt wird. Sie ist deshalb so beliebt, weil sich die Objekte dort in derselben Zeit einmal um die Erde drehen wie die Erde um sich selbst. Aus der Perspektive der Menschen am Erd­boden erscheint es daher so, als ob sich die Satelliten durchgehend am selben Punkt am Himmel befinden, also stationär sind – was beispielsweise praktisch für die Ausrichtung von Satellitenantennen ist.

Damit es auf dieser wertvollen Umlaufbahn nicht zu Kollisionen kommt, müssen alte Satelliten – denn alle Satelliten nutzen sich ab und gehen irgendwann kaputt, genau wie Waschmaschinen oder Staubsauger – Platz machen. Dafür entstand die Friedhofsbahn. Mit ihrem Resttreibstoff, der vor dem Start genau berechnet wurde, bewegen sich die ausrangierten Satelliten rund 300 Kilometer weiter weg von der Erde. Dort bleiben sie.

So verringert die Friedhofsbahn zwar die Chance, dass es zu Kollisionen auf der geostationären Umlaufbahn kommt. Aber wenn sich sehr viele alte Satelliten auf der Friedhofsbahn tummeln, wird es dort irgendwann eng und das Risiko für Kollisionen steigt. Die Teilchen werden bei so einer Kollision in alle Richtungen gestreut und könnten auch wieder tiefer auf die geostationäre Umlaufbahn gelangen, so ESA-Forscher Jan Siminski. „Auch die Friedhofsbahn ist nicht optimal“, sagt er.

Und nun?

Die Menschheit wird den Weltraum weiterhin nutzen, denn wir sind stark auf ihn angewiesen –für unsere ­Kommunikation, zur militärischen ­Beobachtung oder auch für wissenschaftliche Missionen, etwa, um Daten für den Klimawandel zu sammeln. „Es ist ein Spiel mit Zahlen“, sagte der Astronom Stuart Grey 2023 in einer Rede an der Universität in Penn­sylvania. Wenn wir die Anzahl der großen ­Objekte auf den erdnahen Orbits ­verdoppeln oder verdreifachen, wie derzeit in Aussicht, steige auch das Risiko für Kollisionen. Grey fragt sich: Ist es das wert?

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