Deutschsprachiger Lyrikwettbewerb: Aussicht auf ein poetisches Wir
Der Wettbewerbs Literarischer März zeichnet deutschsprachige junge Lyrik aus. Nun stellten die drei Preisträger:innen in Berlin ihre Gedichte vor.
„Man hat sich ein bisschen so wie im Gerichtssaal gefühlt“, sagt Ana Tcheishvili. Das Publikum lacht. Die Stimmung im Berliner Haus für Poesie scheint weniger angespannt als wenige Tage zuvor auf der Preisverleihung in Darmstadt, familiärer. Der „Literarische März“ gilt als der wichtigste Wettbewerb für deutschsprachige junge Lyrik. Die drei Preisträger:innen haben in Berlin ihre Gedichte vorgelesen. Im zartrosa Licht reflektieren sie mit Moderatorin Dagmara Kraus über Gefühlslage und Sprechsituation bei der Preisverleihung, bevor sie lesen.
Der genüsslichen Erzählstimme von Ozan Zakariya Keskinkilic hört man gern zu, wenn er von Elefanten am Kotti erzählt, „lost arab boys“, Tripolis in Berlin. Als Politikwissenschaftler forscht er zu Orientalismus, als Lyriker kann er sie auf die Schippe nehmen, neuschreiben. Seine Gedichtreihe „Abul Abbas. Elefantengeister“, Vorarbeit für seinen nächsten Gedichtband, erhielt einen der zwei mit 4.000 Euro dotierten Wolfgang-Weyrauch-Förderpreise.
Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis
In der Motivik bleibt er konsequent, zeitweise vielleicht etwas zu sehr. Immer wieder lässt er Berliner U-Bahn-Stationen auf Minarette treffen, Anglizismen auf Arabisch, zeitgenössische Berliner:innen und vergangene Elefanten zu Leidensgenoss:innen werden. Inspiriert haben ihn legendären Elefantenfiguren wie Abul Abbas, der 802 dem fränkischen Kaiser Karl dem Großen von Kalif Hārūn ar-Raschīd geschenkt wurde.
Unheimlicher wird es in den Gedichten der georgischen Autorin Ana Tcheishvili, die den zweiten Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis gewann. Das Zuhause bleibt fremd, die Familien namenlos. Dafür werden Gegenstände zu Figuren, die verschwiegene Rituale hüten. So konzentriert Tcheishvilis Arbeit an Worten ist, so konzentriert liest sie vor.
Ihre heraufbeschworenen Bilder sind dunkel und verkehren die uns bekannten: In der Waschmaschine wohnen Fische, kein Stuhl hat eine Lehne. Der für die deutsche Gegenwartslyrik ungewöhnliche Ton sei vielleicht aus einer Pendelbewegung zwischen der deutschen und der georgischen Sprache entstanden, vermutet die Autorin.
Das „gewichtete“ Gedicht
Schockierend ungewöhnlicher scheinen die sprachkunstvollen Verkopfungen von Rudi Burkhardt. Dass viele Jahre Gedankenarbeit in die mit dem Leonce-und-Lena-Preis in Höhe von 8.000 Euro gekrönte Gedichtreihe „Gemeine Gotik“ hineingeflossen sind, merkt man schnell.
Der Autor erbaut komplexe Sprachkathedralen. Jedes einzelne Wort scheint mit größter Präzision abgewogen. Im wörtlichen Sinn: inspiriert von dem Oulipo-Dichter Oskar Pastior, wendete er die Methode des „gewichteten Gedichts“ an. Jedem Buchstaben wird je nach Position im Alphabet ein Zahlenwert zugeordnet, die Addition der Werte gibt jeder Verszeile ein Gewicht, mit dem Ziel von gleichgewichtigen Zeilen. Dieser selbstauferlegte Zwang wird aus den Denkprozessen im Gedicht nicht ausgeklammert, sondern mit mit leicht kneifender Selbstironie begegnet: „Du hast deine Schraube / vielleicht schon locker“.
Das Gedicht fliegt über Sprachlandschaften, in Höhlen, in sterile Neubauten mit einer einzigen menschlichen Figur. Ein alter Herr schminkt sich vor einem Spiegel, löst sich mit dem Ich zusammen wieder auf. Dabei ist das Ich an keiner Stelle fest, sondern immer bedroht in Sein und Sprache.
Aber in seiner Grenzenlosigkeit und Mehrstimmigkeit liegt die Aussicht auf ein Wir, ein gelingendes Queer. Nie wird sie sehnsuchtsvoll. Eher blitzt sie augenzwinkernd hervor, wenn das Gendern sarkastisch gequeert wird – „Wucher-Mechanik*er von Ulm“ oder die etymologischen Wurzeln von „queer“ „gequirquird“ werden. Rudi Burkhardt stockt beim Lesen, stellt Fragen des Gedichts an sich selbst: „Who what?“ Ebenso verwirrt klingen die Lacher im Publikum. In leichter Benebelung, vor allem aber großem Staunen lässt die Lesung einen zurück.
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