: Jung und kämpferisch
Die Bundestagswahl hat gezeigt: Viele junge Menschen fühlen sich von der Politik nicht gehört. Ein Bremer Gymnasium macht vor, wie man Jugendliche ernst nimmt – und wie sich dafür Schule ändern muss

Aus Bremen Eiken Bruhn
Drei Tage nach der Bundestagswahl sitzen 21 Schüler:innen zwischen 14 und 18 Jahren in einem hellen Klassenzimmer am nördlichen Bremer Stadtrand. Manche kauen an der Pizza, die sie aus der Mensa mitgebracht haben. Während ihre Mitschüler:innen jetzt Mittagspause haben, trifft sich hier die freiwillige AG „Demokratisch Handeln, Partizipation und Resilienz“ des Gymnasiums Horn. In der Runde diskutieren sie, was es braucht, um die Demokratie zu retten. Erstens eine Lehrerin, die bereit ist, auch in ihrer Freizeit für die Schule zu arbeiten und zweitens … eigentlich nichts.
Das ist ein nicht ganz unerheblicher Befund in einer Zeit, in der 21 Prozent der 18- bis 24-jährigen Wähler:innen für die AfD gestimmt haben, eine extrem rechte Partei, die einigen Bevölkerungsgruppen weniger Rechte als anderen zuspricht, damit den demokratischen Grundsatz von Gleichheit und Freiheit verletzt und außerdem regelmäßig die Presse- und Meinungsfreiheit beschneidet, ebenfalls ein Grundpfeiler der Demokratie. Zum Vergleich: Einen noch höheren Stimmanteil bei den Jungwähler:innen bekam bei dieser Bundestagswahl mit 25 Prozent nur die Linke. Für Grüne, CDU und SPD entschieden sich nur zwischen 10 und 13 Prozent.
„Junge Menschen fühlen sich von den etablierten demokratischen Parteien nicht mehr angesprochen und ernst genommen“, folgert daraus die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, die vergangene Woche dazu eine Pressemitteilung veröffentlichte. „Sie fühlen sich machtlos und nicht gehört“, heißt es weiter darin. Um dem entgegenzuwirken, müssten Kinder und Jugendliche an Schulen lernen, wie sie Gesellschaft aktiv mitgestalten können. Es brauche dort eine „qualitätsvolle Demokratiebildung“.
Die ehemalige Digital-Politikerin und heutige Beteiligungspädagogin Marina Weisband hält das für wichtiger als ein Schulfach Medienkompetenz, das oft gefordert wird und in Thüringen vergangenes Jahr eingeführt wurde, wie sie in einem Interview für die Robert Bosch Stiftung sagte. „Das Problem an Fake News ist ja nicht, dass wir nicht in der Lage sind, sie zu erkennen, sondern dass wir ein emotionales Bedürfnis haben, sie zu glauben. Dann, wenn ich mich ohnmächtig fühle und jemanden suche, der für mein Unglück verantwortlich ist.“
Am Gymnasium Horn in Bremen hat sich Anne Kroh für die Demokratiebildung eingesetzt. Die promovierte Politikwissenschaftlerin, Lehrbeauftragte an der Universität Bremen und Politik- und Deutschlehrerin hat die AG gemeinsam mit einer Kollegin vor dreieinhalb Jahren ins Leben gerufen, nach dem Ende des zweiten Corona-Lockdowns. Ursprünglich sei es darum gegangen, Schüler:innen zu helfen, denen es sehr schwerfiel, vor anderen zu reden. Aus diesem Training gegen Sprechängste habe sich dann etwas entwickelt, was auf die Stärkung der Gesamtkonstitution zielte.
In einem Artikel für einen Schulbuchverlag beschreibt sie die Wechselwirkung zwischen demokratischem Handeln und Resilienz. Wer innerlich stark und widerstandsfähig sei, könne dem aktuellen Forschungsstand nach Herausforderungen besser bewältigen, was zu demokratischem Handeln befähige. Umgekehrt stärke letzteres die Resilienz, wenn Schüler:innen anhand praktischer Erfahrungen ihre Selbstwirksamkeit als politische Subjekte erleben.
Der 18-jährige Abiturient Levin Meyer hat das erlebt. „Bis zur 9. Klasse war ich sehr schüchtern und habe im Unterricht so gut wie nie etwas gesagt.“ Die kleinen Erfolge des Sprechtrainings hätten ihn selbstbewusster gemacht, sagt er. Er wurde gemeinsam mit anderen aus der AG Schülersprecher, sprach vor Dutzenden Erwachsenen bei der Einweihung des Arisierungsmahnmals und gewann im vergangenen Jahr den Landeswettbewerb Jugend debattiert. Das zu hören, mache ihr Mut, sagt später in kleinerer Runde in der Mensa eine 14-Jährige. „Ich habe oft noch Angst, etwas Falsches zu sagen.“
Es gehe darum, den Fokus auf kleinere Projekte zu richten, bei denen die Erfahrung gemacht werden könne, etwas positiv zu beeinflussen, erklärt Levin Meyer. „Wenn man nur diese großen, abstrakt wirkenden Themen wie Klimawandel betrachtet, fühlt man sich hilflos und geht daran kaputt.“ Weder er noch die anderen wirken angesichts des Wahlergebnisses besonders niedergeschlagen – eher kämpferisch.
„Viele begreifen nicht, was die AfD will, weil sie die genauen Ausformulierungen auslässt“, sagt der 18-jährige Erik Wolters, und der 15-jährige Nicolas Binns seziert, wie die AfD vordergründig einen Minimalkonsens vertrete, hinter dem sich viele versammeln können, etwa dass Migration die Ursache aller Probleme wäre. Dabei ist er der Einzige in der Runde, der sich offensiv als links bezeichnet und auch so aussieht. Die Schule liegt in einem wohlhabenden Stadtteil, mit 25 Prozent war die CDU hier stärkste Partei bei der Bundestagswahl. Die aktuelle Vorsitzende der Schüler Union ist ebenfalls Mitglied der AG.
Der Stand In den vergangenen Jahren haben einige Länder die Demokratiebildung gestärkt, darunter Sachsen, Berlin oder Brandenburg. Die Anzahl der Stunden für Politik beziehungsweise Sozialkunde variiert jedoch stark zwischen den Ländern und Schulformen und wird oft fachfremd unterrichtet.
Der Wunsch Die Ständige Wissenschaftliche Kommission, die die Ministerien berät, empfiehlt ein durchgängiges Unterrichtsangebot für Politik/Geschichte, mehr Fortbildungen zu aktuellen Themen sowie eine demokratische Schulkultur. (taz)
Parteipolitik spiele keine Rolle in der AG, sagt Levin Meyer, „es geht um die eigene Perspektive.“ Dabei lernen sie, mit unterschiedlichen Meinungen umzugehen. Als sie zum Beispiel dem Westermann Verlag einen Brief schrieben, in dem sie den Umgang mit dem N-Wort in einem Schulbuch kritisierten, hätten sie diskutiert, was sie vom Verlag verlangen sollen, sagt sein Mitschüler Erik Wolters. Einig seien sie sich allerdings, wie wichtig der Kampf gegen Rechtsextremismus ist. Alle Projekte des vergangenen Jahres hätten damit zu tun gehabt.
Ihre Lehrerin Anne Kroh schickt später eine lange Liste, auf welchen politischen Veranstaltungen Mitglieder der AG ihre Forderungen vorgestellt haben, in Berlin und Bremen. Für ihr Engagement ist die AG von der Vereinigung für politische Bildung ausgezeichnet worden, sie war Ehrengast beim Neujahrsempfang der Bremischen Bürgerschaft. Es sind nette, kluge Jugendliche, angenehme, überlegte Gesprächspartner:innen, die man gerne einlädt. Aber wer als Erwachsener glaubt, sie nicht ernst nehmen zu müssen, irrt. Auf einer Podiumsdiskussion vor der Wahl Anfang Januar stellen sie ihr politisches Verständnis unter Beweis. Den CDU-Landesvorsitzenden nehmen die drei 15-jährigen Moderator:innen mehrfach so in die Mangel, dass der sich nur noch damit zu helfen weiß, sie als ahnungslose Jugendliche herunterzumachen. „Vorsicht an der Bahnsteinkante“, sagt er und: „Den Nahostkonflikt versteht man nicht, wenn man Tiktok guckt.“ Drei Mal erinnern ihn die Moderator:innen freundlich an die Regel des respektvollen Umgangs.
Mehr Politikunterricht
Diskussionen mit Erwachsenen auf Augenhöhe sind ein Kernelement der AG. Aber die Schüler:innen handeln auch: Gründen eine Schülerzeitung und einen Instagram-Blog, vertreten Interessen der Schüler:innen in der SV, sorgen für die Einführung eines digitalen Schülerausweises. Ein Schüler hat in seinem Stadtteil ein kommunalpolitisches Jugendforum gegründet und streitet sich mit Lokalpolitikern um Mitspracherechte. Und dann ist da noch der Brief an die Bremer SPD-Bildungssenatorin Sascha Aulepp, geschrieben Anfang Januar. Vier Stunden verbindlichen Politikunterricht in der Sekundarstufe I fordert die AG darin sowie Demokratiebeauftragte an den Schulen, die dafür drei Entlastungsstunden bekommen sollen.
Mittlerweile leite sie die AG nicht mehr komplett in ihrer Freizeit, sagt Anne Kroh, aber mehr als eine Stunde stehen ihr und ihrer Kollegin jeweils auch nicht dafür zur Verfügung. „Es ist wichtig, dass eine Lehrkraft die Verantwortung trägt“, sagt Erik Wolters, „das garantiert die Kontinuität.“ Was vielen nicht bewusst ist: Das Zeitfenster, in dem sich Jugendliche selbst für ihre Belange einsetzen können, ist verdammt klein.
Die Schüler:innen wissen, dass ihre Voraussetzungen ganz andere sind als die von Gleichaltrigen in weniger privilegierten Stadtteilen, wo sich Lehrer:innen um teils existenzielle Probleme ihrer Schüler:innen kümmern müssen. „Politische Bildung darf kein Privileg für wenige sein“, heißt es in dem Brief an die Bildungssenatorin, „sie ist ein Grundrecht für alle und der einzige wirksame Schutz vor Demokratiefeindlichkeit und politischer Manipulation von Jugendlichen und Kindern“.
Ende März können sie darüber mit der Bildungssenatorin diskutieren. Sie hat einen Besuch zugesagt.
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