: Zurück für den Sprung
Bei der Rundfahrt Tirreno–Adriatico beeindruckt Tom Pidcock. Für Englands größtes Radsporttalent zahlt sich der Wechsel zu einem kleineren Team aus
Aus Frontignano Tom Mustroph
Tom Pidcock, eine der interessantesten Figuren im gegenwärtigen Radsport, zeigte beim Tirreno–Adriatico viele Facetten seines Talents. Er war bei den leichter bewältigbaren Bergen vorn dabei, holte bei der Königsetappe den zweiten Platz und mischte erfolgreich im Sprint mit. Die Plätze 2, 2, 6 und 8 weisen auf große Konsistenz unter unterschiedlichen Bedingungen hin. Doch Pidcock wäre nicht Pidcock, wenn er damit zufrieden wäre. „Ich bin ein bisschen sauer über mich selbst, was einfach das schlimmste Gefühl ist, was man nach einem Rennen haben kann“, sagte er nach Platz 2 am Samstag in Frontignano.
Dort, auf dem finalen Anstieg, umgeben von Hängen, auf denen noch Schnee lag, hielt er mit dem Australier Jai Hindley lange das Rad des späteren Siegers Juan Ayuso. Bei dessen letzter Attacke musste er aber passen, bezwang im Sprint zumindest noch Red-Bull-Bora-Hansgrohe-Profi Hindley. „Ich denke, das war meine beste Performance überhaupt auf einem Berg wie diesem. Aber ich glaube auch, ich hätte mehr tun können“, erklärte er selbstkritisch und wies auf sein nicht optimales Balancieren zwischen Maximalbelastung und der Sorge vor einer Überreizung hin. „Das Pacing ist bei solchen Bergen niemals einfach. Aber ich glaube, meine rote Zone beginnt noch etwas weiter oben. Und ja, ich hätte die Lücke schließen sollen.“
Das legt den Schluss nahe: Pidcocks Körper ist in einer besseren Verfassung, als Pidcocks Geist glaubt. Es ist ein weiteres starkes Zeichen für die Art der Befreiung, die der 25-jährige Brite gegenwärtig erlebt. Im letzten Jahr verließ er in bitterem Streit sein damaliges Team Ineos Grenadiers. „Ja, es war ein schwieriges Jahr“, blickte er zurück. Doch nicht nur das letzte Jahr war eher problematisch für Großbritanniens aktuell größtes Radsporttalent. „Ich hatte die letzten zwei Jahre keine große Freude an den Rennen“, meinte er.
Die Gründe waren vielfältig. Die Top-Resultate für ihn waren selten. Aber auch sein Team, das in der Dekade zuvor siebenmal die Tour de France gewonnen hatte, wurde vom Branchenführer zu kaum mehr als einem Mitläufer. Das wiederum erhöhte den Druck auf Pidcock. Das Talent sollte liefern, blieb aber unter den Erwartungen, den eigenen, denen des Teams, auch denen der Öffentlichkeit. Eine belastende Zeit.
Und weil Pidcock eben mehrfach talentiert ist, als Doppelolympiasieger im Mountainbike über eine seltene Mischung aus Explosivität und Widerstandskraft verfügt, waren die Ansprüche besonders groß und auch besonders vielfältig. „Wenn ich in den letzten Jahren zur Tour gefahren bin, wusste ich, glaube ich, selbst nicht richtig, was ich wollte oder was ich erreichen könnte. Ich habe einfach das gesagt, von dem ich glaubte, dass es alle hören wollten“, resümiert er. Das betraf vor allem die Frage, ob er reif für den Kampf um einen Podiumsplatz bei der Tour de France sei. Diese hohen Erwartungen bremsten Pidcock.
Auch deshalb der geradezu revolutionäre Schritt im Winter. Er wechselte als bestbezahlter Profi (vier Millionen Euro pro Jahr) des einstigen Dominanzteams Ineos Grenadiers zum unterklassigen Rennstall Q36.5.
Tom Pidcock
Das Resultat war eine Befreiung. Pidcock startete die Saison mit zwei Etappensiegen und dem Gesamtsieg bei der AlUla-Tour in Saudi-Arabien. Er legte in Spanien, bei der Ruta del Sol, mit einem Etappensieg nach. In Italien wiederum, bei dem Sandstraßenklassiker Strade Bianche, lieferte er dem übermächtigen Tadej Pogacar einen heißen Kampf und wurde Gesamtzweiter. Es folgten die guten Auftritte beim Tirreno. Pidcock scheint jetzt bereit für die nächsten großen Ziele der Klassikersaison.
Bei Q36.5 scheint er sich wohl zu fühlen. Das Team wurde um ihn herum gebaut. „Und fehlte zuvor ein echter Kapitän, eine Führungsfigur. Jetzt haben wir sie“, erklärte der sportliche Leiter Gabriele Missaglia gegenüber der taz. Da passt etwas. Der vermeintliche Schritt rückwärts von Pidcock könnte die Grundlage für einen Sprung ganz nach vorn werden.
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