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Am Rande der Verwahrlosung

Vom Aufwachsen in der Nach-wendezeit erzählt Patricia Hempel

Von Renate Kraft

Patricia Hempel lässt ihre Hauptfiguren gern aus dysfunktionalen Familien kommen. Das war schon in ihrem Romanerstling „Metrofolklore“ von 2017 so, in dem eine ebenso desillusionierte wie wortgewaltige Berliner Studentin ihr Ungenügen an den (sexuellen) Verhältnissen in einen schnoddrigen Monolog kleidet. Die mit ihren dreizehn Jahren deutlich jüngere Heldin ihres neuen Romans „Verlassene Nester“ dagegen begegnet ihrer Umgebung voller Hoffnungen und Sehnsüchte.

Dabei ist ihr Leben seit dem rätselhaften Verschwinden ihrer Mutter ziemlich trostlos geworden: Mit ihrem trinkenden Vater lebt Pilly am Rande der Verwahrlosung in einem kleinen Ort im ehemaligen DDR-Grenzgebiet. Das Betonwerk ist stillgelegt, die dazugehörenden Wohnhäuser werden „Baracken“ genannt und sehen auch so aus. Niemand bewirtschaftet die Brachen zwischen den Häusern. Die Übernahme der zusammengebrochenen DDR durch die Bundesrepublik ist drei Jahre her.

Wenn Pilly den Kleiderschrank im Elternschlafzimmer öffnet und in den Blusen den Geruch ihrer Mutter wahrzunehmen meint, versucht sie regelmäßig, sich diese Mutter ins Gedächtnis zu rufen. Sehnsuchtsvoll und zugleich sexuell begehrend verliebt sie sich in die selbstgewisse Mitschülerin Katja und gerät in eine Ménage-a-trois, zu der auch Katjas Freundin Bine gehört.

Die Unwägbarkeiten dieses Dreiecks gehen mit vielen Gemeinheiten, mit Machtspielen und Verrat einher. Zugleich begegnet Katja der jüngeren Pilly mit mütterlich gefärbter Zärtlichkeit. Dann jedoch beginnt sie eine Liebschaft mit dem Polen Marcik, der sie am Ende des Sommers schwanger zurücklassen wird

Patricia Hempel: „Verlassene Nester“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2024, 295 Seiten, 24 Euro

Neben Pillys Ich-Erzählung treten andere Perspektiven, allen voran die der Tante Fuchs und der alten Lehrerin Frau Klinge, die mit unaufdringlicher Fürsorge über Pillys Aufwachsen wachen. In einer anspielungsreichen, psychologisch genauen und stellenweise poetischen Sprache beschreibt die Autorin das Erleben ihrer Figuren und zeichnet ein differenziertes Bild von der Zivilgesellschaft der untergegangenen DDR. Die Dagebliebenen sperren sich gegen die ihnen vom Westen verordneten Modernisierungen und verteidigen ihre Nischen. In denen nistet oft eine altmodische Fürsorge, aber auch, wie beim örtlichen Stammtisch, schamlose Fremdenfeindlichkeit.

Ist es Zufall, dass sich Fürsorge vor allem dort findet, wo Frauen ihre Gärten bewirtschaften? Und selbst geangelte Fische räuchern, auch wenn die neue Verwaltung diesen Fischen eine zu hohe Schadstoffbelastung attestiert. Die alte Frau Klinge wässert auf ihrer Datsche ein Schlammloch, aus dem die Schwalben sich beim Nestbau bedienen. Ungerührt nimmt sie hin, dass die Schwalbenmutter ihre Brut aus dem Nest wirft, um mit einem anderen Männchen neu zu bauen.

Einen uneingeschränkt guten Ort gibt es in diesem Roman nicht. Und am Ende muss sich auch Pilly zwischen zwei unvollkommenen ­Lebensmöglichkeiten entscheiden.

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