: Schreibhilfe aus dem Telefon
Das Alfa-Telefon, die bundesweit einzige Hotline für Analphabeten, feiert in diesem Jahr zehnjähriges Jubiläum. Mehr als 20.000 Anrufer nutzten bisher den Service. Die Finanzierung ist jedoch gefährdet: Bund und Länder fühlen sich nicht zuständig
VON Marco Mierke
Ruppert steht zitternd mit dem Rücken zur Wand. Sein Chef in der Werkstatt hat gerade erfahren, dass er nicht lesen kann – ein Albtraum für den Analphabeten. Millionen Fernsehzuschauer haben diese Szene schon gesehen, in einem Werbespot für das Alfa-Telefon. Das Angebot des Bundesverbands Alphabetisierung ist die einzige bundesweite Sorgen-Hotline für Menschen wie Ruppert, die nicht richtig lesen und schreiben können. In diesem Jahr feiert die außergewöhnliche Einrichtung ihren zehnten Geburtstag.
Das Telefon in dem kleinen Büro in der Münsteraner Einkaufszone steht keinen Tag still. Seit Peter Hubertus den heißen Draht im September 1995 gründete, zählte er schon fast 20.000 Anfragen von Rat suchenden Analphabeten oder deren Angehörigen und Freunden. Wo finde ich Schreibkurse in der Nähe? Wie kann ich meine Schwäche verstecken, wie erzähle ich meinem neuen Partner davon? Fragen, die der studierte Lehrer oder seine zehn ehrenamtlichen Helfer Tag für Tag geduldig beantworten.
„Wer hier anruft, kann endlich mal anonym heraus lassen, was er selbst engsten Vertrauten oft nicht erzählen kann“, sagt Hubertus. Der Bedarf scheint unerschöpflich, schließlich leben in Deutschland nach Schätzungen der UNESCO rund vier Millionen Analphabeten. Der Anruf beim Alfa-Telefon ist für viele der erste Schritt, sich aus der beklemmenden Situation zu befreien. „Die nächste Stufe ist ein Vier-Augen-Gespräch etwa in der Volkshochschule, erst dann heißt es Gesicht zeigen“, sagt Hubertus. Viele Betroffene scheinen genau diesen Weg zu gehen. „Es ist die beste Stelle, um an Infos zu kommen, ohne sich outen zu müssen“, sagt Gabriele Gesing, die seit mehr als zehn Jahren Kurse für Analphabeten leitet. Viele ihrer Schützlinge erführen überhaupt erst beim Alfa-Telefon von den Bildungsmöglichkeiten. „Wir sind sehr froh, dass es diese bundesweite Nummer gibt. Sie erspart den Betroffenen den Gang durch viele Institutionen“, sagt auch Ellen Abraham vom Grundbildungszentrum der Volkshochschule Hamburg.
Davon profitierte auch der 31 Jahre alte Betroffene aus Köln, der anonym bleiben möchte. Er sah die Werbung für das Alfa-Telefon vor drei Jahren im Fernsehen, seine Frau rief damals für ihn an. „Ich wollte meiner kleinen Tochter endlich Geschichten vorlesen können“, sagt er. Seitdem geht er jede Woche einmal zum Abendkurs und hat schon begonnen, Krimis zu lesen und Kurzgeschichten zu schreiben. Dass die Idee einer bundesweiten Anlaufstelle seit zehn Jahren erfolgreich ist, verdankt Hubertus auch seinem Durchhaltevermögen. Nicht nur kümmerte er sich von Beginn an um die Finanzierung des rein von Spenden getragenen Angebots. In den ersten acht Jahren nahm der Bundesverdienstkreuz-Träger darüber hinaus allein die Anrufe an. Das alles in seiner Wohnung. Erst als das Alfa-Telefon im Jahr 2002 mit über 5.300 Anrufen gar nicht mehr still stehen wollte, gönnte Hubertus der Einrichtung ein größeres Büro mit Platz für Helfer.
Ohne die Hilfe von Sponsoren wäre die Hotline dennoch schon längst wieder Geschichte. Weil Bildung Sache der Länder ist, das Alfa-Telefon aber bundesweit arbeitet, fühlt sich niemand für die Finanzierung zuständig. Erst die großzügige Spende eines Krefelder Pressegrossisten ermöglichte Hubertus den Aufbau der Hotline. Das Geld reichte für zwei Jahre, seitdem kann er immer nur soweit planen, wie Spenden vorhanden sind. Das Alfa-Telefon arbeitet ganz ohne eigenes Kapital. So besteht die Büro-Ausstattung aus Geschenken örtlicher Unternehmer, die Produktion der teuren TV-Werbespots spendiert eine große Werbeagentur und die eigentlich Millionen kostende Ausstrahlung erledigen sogar die Privatsender ganz ohne Bezahlung.
Hubertus hofft, dass unter der Nummer des Alfa-Telefons auch in den nächsten zehn Jahren jemand für die Analphabeten erreichbar sein wird. „Wir gehen immer davon aus, dass es weitergehen muss. Das Schlimmste ist, wenn wir irgendwann nicht mehr ans Telefon gehen.“ (dpa)