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Viel mehr als eine Unkrautmalerin

Grethe Jürgens’Retrospektive im Sprengel Museum zeigt Werke von Neuer Sachlichkeit über Unkrautmalerei bis zu bunten Abstraktionen. Die souveräne und vielseitige, aber unterschätzte Hannoveraner Künstlerin prägte Zeichnung, Illustration und Grafik

Kranke Person und Großstadt statt Landschaft im Fenster: Jürgens‘ „Krankes Mädchen“ von 1926 kombiniert zwei zeittypische Motive ungewohnt Foto: Herling/Herling/Werner, Sprengel Museum Hannover; © H. Jürgens-Hitz

Von Bettina Maria Brosowsky

Gelegentlich sah man Werke der Hannoveraner Künstlerin Grethe Jürgens (1899–1981) im Sprengel Museum: einen mit Farbstift und Kugelschreiber skizzierten Zeltplatz etwa, 2015 in der kleinen Schau „Auszeit. Vom Faulenzen und Nichtstun“. Oder ihren farbigen Linolschnitt „Kleine Gärtnerei“ in „Kunstlandschaft. Naturwelten in der Kunst seit 1950“ im Sommer 2019.

Eine größere Bühne erhielt Jürgens 2017/18 in „revonnaH. Kunst der Avantgarde in Hannover 1912–1933“, im Titel angelehnt an Kurt Schwitters Wortspiel für die Leinemetropole. Man staunte nicht schlecht, in Jürgens’erstem überliefertem Ölbild, „Krankes Mädchen“ von 1926, zwei zeittypische Motive in ungewohnter Komposition vereint zu sehen. Da wäre die kranke Person mit Paradekissen im Sessel, trotz bürgerlichem Status aus dem Leben entgrenzt. Sie hat offensichtlich gerade Besuch, denn sie hält zwei orangerote Dahlien, noch im Einwickelpapier. Die Kranke ist an den linken Bildrand gerückt, eine Schulter scheint fast angeschnitten.

Als zweites Motiv öffnet sich rechts der Blick aus dem Fenster: nicht auf eine Landschaft, sondern auf die graue Großstadt mit Mansardendächern, Stromleitungen und einer qualmenden Fabrik. Schnell wurde Jürgens aufgrund weiterer, ähnlich sozialrealistischer Sujets der Neuen Sachlichkeit zugerechnet, ein Begriff, den 1925 eine Ausstellung der Mannheimer Kunsthalle prägte. Zu ihrem 100-jährigen Jubiläum wird sie dort aktuell einer kritischen Revision unterzogen, besonders in Bezug auf Künstlerinnen: 1925 war keine einzige Frau dabei!

Der Begriff allerdings entfaltete Wirkkraft bis nach Norddeutschland: 1928 und nochmals 1932, im Braunschweiger Herzog Anton Ulrich Museum, fanden Überblicksausstellungen „Die Neue Sachlichkeit in Hannover“ statt, Grethe Jürgens nahm teil, zuerst mit vier, dann mit 15 Arbeiten.

Der großen, unterschätzten bis vergessenen Hannoveranerin richtet das Sprengel Museum nun eine Retrospektive mit 200 Werken aus, die alle Schaffensphasen würdigt. Möglich wurde sie durch den Nachlass mit 470 Arbeiten, den das Museum bereits 1984 übernahm. Deutlich tritt eine souverän vielfältige Künstlerin hervor, die sich nicht auf die „Neue Sachlichkeit“ beschränkt. Beim Gang durch die sechs Ausstellungsräume erkennt man zudem schnell, dass Jürgens’charakteristische Malerei nur eine zeitlich befristete Episode blieb, konzentriert auf die Jahre zwischen 1926 und etwa 1931.

In ihrem Selbstverständnis sah sich Jürgens stets als Zeichnerin, Illustratorin und Grafikerin. Diesen Weg hatte sie schon früh und konsequent eingeschlagen: Geboren bei Osnabrück, in Wilhelmshaven aufgewachsen, folgte einem rasch abgebrochenen Architekturstudium, 1918 in Berlin, von 1919 bis 1922 eine Ausbildung in der Grafikklasse der Kunstgewerbeschule Hannover, auch mit Zeichenunterricht. Jürgens arbeitete bis 1929 als angestellte Werbegrafikerin, wagte dann die künstlerische Selbständigkeit.

Grethe Jürgens. Retrospektive: bis 15. 6., Sprengel Museum Hannover

Überwucherte Ruinen

In prekären Zeiten zum Ende der Weimarer Republik sollen Unterstützungen durch das Arbeitsamt zu ihrem Alltag gehört haben – Erfahrungen, die sie in leicht düsterer Malerei verarbeitete: Arbeitslose oder das Hannoversche Amtsgebäude, das nun auch von einer bürgerlichen Klientel frequentiert wird wie einer Frau mit Kinderwagen.

Rohre statt Unkraut: Im späteren Werk Jürgens’, hier „Rohre“ von 1971, hält moderne Technik Einzug Foto: Herling/Herling/Werner, Sprengel Museum Hannover; © H. Jürgens-Hitz

Die Jahre des NS-Regimes durchlebte Jürgens, „mit harmlosen Pflanzenbildern und Buchillustrationen“, wie sie 1973 in einem Interview sagte. Aber sie wählte nicht edle Gewächse, sondern den spontanen Aufwuchs, die unbeachtete Flora an Wegesrand wie einen Blutweiderich am Kanal, 1941. Sie illustrierte populärwissenschaftliche Naturstudien, so von ihrem zeitweiligen Verlobten Gustav Schenk, schuf Titelbilder der Monatsschrift „für Kultur- und Heimatpflege“ Niedersachsen. Um arbeiten zu können, trat sie der Reichskunstkammer bei, sie stellte regelmäßig aus, verdiente gut. Gleichwohl sieht Museumsdirektor Reinhard Spieler sie nicht als Systemträgerin, vertraut auf die thematische Metaphorik der selbsternannten „Unkrautmalerin“.

Nach 1945 entfaltet das Werk eine frische, befreite Kraft. Das Unkraut überwuchert Ruinen, die Farben werden kräftig, moderne Technik hält Einzug: Aggregate, Rohre, ein kleines Flugzeug. Jürgens experimentiert mit Mischformen aus Zeichnung, Tempera und Aquarell, per Kugelschreiber ersinnt sie 1958 eine „Abstrakte Topographie“ und „Die unmögliche Stadt“ aus Architekturfragmenten. Sie wirft bunte Abstraktionen, mit Binnenzeichnungen gefüllte Formen auf den Zeichenkarton, einmal wird er gestanzt. Am Ende strahlt ein kleines rotes Quadrat aus einer strengen Geometrie. Dieses unbekannte Spätwerk steht nun selbstverständlich neben den prominenten frühen Arbeiten, in einer unaufgeregten, der Sache verpflichteten Ausstellung: Museumsarbeit, wie sie sich gehört.

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