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Archiv-Artikel

„Die Latte liegt unerreichbar hoch“

EUROPA Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts soll der Bundestag im EU-Alltagsgeschäft mehr mitreden. Ein Gespräch über parlamentarische Rechte, die Sachkunde der Politiker, demokratische Widersprüche und die Schubladen des nationalen Rechts

Ulrike Liebert

ist Professorin für Politische Wissenschaft an der Universität Bremen und Direktorin des dort angesiedelten Jean Monnet Centre for European Studies (CEuS).

Interview von Jan Zier

taz: Das Verfassungsgericht hat jüngst die Rechte des Bundestages gegenüber der EU gestärkt. War das also ein gutes Urteil für den Parlamentarismus?

Ulrike Liebert: Die Bundestagsabgeordneten erhalten mehr Macht der Regierung in Brüssel genauer auf die Finger zu schauen. Leider geht es hauptsächlich um negative Macht. Zudem fand das Europäische Parlament bei den Karlsruher Richtern keinerlei Anerkennung. Vermutlich passt ein multinationales und vielsprachiges Parlament nicht in die herkömmlichen Schubladen des nationalen Staatsrechts. Die Möglichkeit eines demokratischen EU-Bundesstaates wollen sie nicht prinzipiell ausschließen – setzen die Latte aber unerreichbar hoch.

Ein deutscher EU-Abgeordneter vertritt 857.000, einer aus Malta nur 67.000 Menschen. Ist das nicht ein unauflöslicher undemokratischer Widerspruch?

In der EU ist dies ein Kompromiss, mit dem wir leben müssen. Und können, solange die Entscheidungen gut und nachvollziehbar begründet und mit einem möglichst breiten Konsens gebildet werden.

Aber kann das Europaparlament je als vollwertiges Parlament gelten?

Im Prinzip ja, obwohl das Verfassungsgericht erhebliche Hürden aufgebaut hat. In der Praxis scheint es mir ohne starken Wählerwillen schwerlich möglich, diese auszuräumen.

Schon jetzt könnte sich der Bundestag viel öfter in EU-Fragen zu Wort melden, als er das tut.

Wichtige Voraussetzung für die Demokratisierung eines solch intransparenten und komplexen Systems ist die Fähigkeit der Parlamentarier, Öffentlichkeit herzustellen. Ich vermute in den Gremien jenseits des Europa-Ausschusses zu geringe Sachkompetenz in EU-Fragen.

Wie kann man das ändern?

Man könnte jedem nationalen Abgeordneten regelmäßig Praktika im Europaparlament zur „Weiterbildung“ verschreiben. Wenn das Lissabon-Urteil ein Anreiz für die Volksvertreter wäre, sich europapolitisch fortzubilden und gewonnene Einsichten mit der Öffentlichkeit zu teilen, wäre schon viel gewonnen!

Immer wieder ist davon die Rede, dass im Grunde nur das Europaparlament in der Lage ist, die Kommission und die Interessenskartelle der nationalen Fachminister zu kontrollieren. Sehen sie das auch so?

Dort, wo die Mitgliedsstaaten das Sagen haben, sollten die nationalen Parlamente die besseren Wachhunde sein.

Kann man die Entmachtung nationaler Parlamente durch mehr gesetzliche Beteiligungsrechte stoppen?

Diese sind notwendig, aber nicht hinreichend.

Wenn immer mehr Entscheidungen in Brüssel gefällt werden, aber weder das eine, noch die anderen Parlamente richtig kontrollieren, wird die Demokratie da nicht substanzlos?

Dies ist völlig richtig. Aber wenn beide Parlamente wirksamere Kontrolle ausübten, würden in Brüssel auch legitimere Entscheidungen gefällt. Der in meinen Augen eigentliche Missstand ist nach wie vor die Bürgerferne der europäischen Integration.

Hat die europäische Integration nicht eine ungewollte Eigendynamik entwickelt?

Eine solche für weite Teile unverständliche Eigendynamik hat sich in der Tat aus den ökonomischen und geopolitischen Zwängen entwickelt, mit denen die EU nach 1989 konfrontiert war. Alles in allem ist die öffentliche Unterstützung für die EU in Deutschland aber in den letzten 20 Jahren nicht gesunken, sondern nach wie vor auf einem im EU-Vergleich relativ hohen Niveau.

Einige sehen in der Entscheidung aus Karlsruhe das Ende des Vertrages von Lissabon.

Das ist schlicht falsch. Eher ließe sich befürchten, dass mittel- und langfristig über den Lissabon- Vertrag hinaus keine wesentlichen Vertragsänderungen mehr durchsetzbar sein werden.

Manche Kommentatoren sehen das Urteil als „sehr deutsch“ an...

Und dies sehe ich durchaus positiv, etwa beim Parlamentsvorbehalt, den das Urteil nun auf die Europapolitik ausdehnt. Als „deutsch“ in einem eher negativen Sinne sehe ich die Selbstbezogenheit der deutschen Jurisprudenz, welche in dem Urteilstext zum Ausdruck kommt.

„In der Realität hat der Abgeordnete eher in Talkshows etwas zu sagen als bei Abstimmungen“

Gibt es ein Grundrecht auf einen Bundestagsabgeordneten, der noch etwas zu sagen hat?

Obwohl ein solches Grundrecht aus dem Grundgesetz sicher abgeleitet werden kann, ist es faktisch durch die Parteiendemokratie und Fraktionsdisziplin weitgehend außer Kraft gesetzt. In der Realität hat der Abgeordnete eher in Talkshows etwas zu sagen als bei Abstimmungen im Bundestag, in denen Abweichen von der Parteilinie bestraft wird.

Widerspricht die EU-Politik zu sehr dem Denken nationalstaatlicher Abgeordneter?

EU-Politik wird solange im Widerspruch zum Denken des nationalen Abgeordneten stehen, wie seine Wiederwahl allein von innenpolitischen Themen abhängt. Soweit Medien und Wähler europapolitische Interessen anmelden, wird er oder sie nicht umhin können, nationale Scheuklappen abzulegen.

Auch Ländervertreter wollen jetzt in EU-Fragen mehr zu sagen haben. Zu recht?

Die Bundesländer haben in EU-Fragen bereits bedeutend mehr zu sagen, als alle anderen Regionen der EU zusammen genommen. Allerdings sind allein die Länderregierungen die Nutznießer, die gewählten Länderparlamente spielen eine eher marginale Rolle. Vielen Regionen außerhalb Deutschlands fällt in der EU lediglich die Rolle der Empfänger von EU-Mitteln zu.

Auch Bremen hat viele Millionen aus Brüssel bekommen.

Aber es bezieht nicht nur erhebliche Mittel. Es betreibt auch eine aktive europapolitische Öffentlichkeitsarbeit, Informations- und Kommunikationspolitik.