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Alligatoren nach dem Essen

Victor Heringer beschäftigt sich in seinem Roman „Die Liebe vereinzelter Männer“ intensiv mit dem Verlust der ersten (queeren) Liebe

Von Sidney Kaufmann

Es ist heiß. Die Temperatur: „immer über 31 Grad“. Im Fernseher läuft eine Doku über klimatische Veränderungen von Küstenstädten. Auf den Straßen platzt der Asphalt. Alles drängt: das Leben, die bevorstehenden Katastrophen in der Welt.

„Von klein auf habe ich die Sonne gehasst, aber mein ganzes Leben bin ich von ihr abgeleckt worden wie ein Welpe.“ Das sagt Camilo, der Protagonist des Romans „Die Liebe vereinzelter Männer“ von Victor Heringer. Camilo hat viele Wege ausprobiert in seinem Leben, zuletzt als Antiquar. Doch ihm fehlt etwas – jemand. Er ist Mitte 50, und seit seinem Rückzug nach Qeuím, einem fiktiven Randbezirk Rio de Janeiros, lässt ihn seine Vergangenheit nicht mehr los.

Als Sohn einer weißen Arztfamilie ist er hier in den 1970ern während der brasilianischen Militärdiktatur aufgewachsen. In kurzen lyrischen Kapiteln mit eingefügten Bildern und Kinderzeichnungen erinnert er sich an das Schwimmen im Pool, das Unwohlsein beim Kochen von Rinderzungen, das geheimnisvolle Wesen des Vaters. Seine Sprache ist zwischen Schmerz und Genuss zerrissen.

Nach dem plötzlichen Unterkommen des Waisenkinds Cosme in der Familie erweitert sich Camilos Welt. Durch ihn gelangt er in ein anderes Milieu und fängt an zu begreifen, dass es so etwas wie Klassenunterschiede gibt. Vor allem aber beschäftigt ihn seine aufkommende „gewisse Liebe für Männer“. Eines Abends trifft sich seine neue Jungenclique zur Gruppenmasturbation. Er ist überfordert, und im entscheidenden Moment hilft ihm Cosme aus. Er wird zum wichtigsten Menschen seines Lebens, zu seiner ersten großen Liebe.

Magische Dynamik

Cosme ist der Schrein gewidmet, der hier aus den Erinnerungen zusammengebaut wird. Es ist eine Feier der Intensität einer queeren Liebe, die es eigentlich nicht geben sollte. Alchemistische Sexualität, Melancholie und Witz – alles wird aufgerissen, wie lauter Wunden, ohne wieder zu verwachsen. So entsteht beim Lesen eine magische Dynamik, die die Vergänglichkeit dieser Momente zu etwas Erhabenem macht. Gleichzeitig hängen über der Liebesgeschichte drohend die politischen Verstrickungen der Familie.

Victor Heringer ist im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannt. Als er 2013 für seinen (bis heute nicht ins Deutsche übersetzten) Debütroman „Gloria“ mit dem Prêmio Jabuti ausgezeichnet wird, erlangt er auch über Brasilien hinaus Bekanntheit. Über Jahre leidet er an Depressionen und entscheidet sich mit 29 gegen das Leben. Und so fällt es beim Lesen manchmal schwer, nicht auch an seinen frühen Tod denken zu müssen: „Darum ist es das tägliche Leben, das sterben muss.“

Victor Heringer: „Die Liebe vereinzelter Männer“. Aus dem Portugiesischen von Maria Hummitzsch. März Verlag, Berlin 2024. 208 Seiten, 24 Euro

Der Roman schafft es, die Sperrigkeit von Menschen, ihre Distanziertheit und Schutzbedürftigkeit einzufangen. Sie waten vereinzelt durch den Schlamm des Lebens, sind einander zwar vertraut, aber trotzdem ein Rätsel. „Wir waren Alligatoren nach dem Mittagessen, zusammengekauert im Schatten, und sahen fast keinen Sinn in einer solchen Existenz.“ Doch aus allem spricht eine Sehnsucht nach Gemeinschaft – so gewaltig, dass sie unerfüllt sogar in einem Verbrechen kulminiert. So ist das Buch auch der Versuch, das sackgassenhafte Innenleben traditioneller Männlichkeit zu begreifen.

Besonders ergreifend ist es, wenn Camilo sich davor fürchtet, Cosmes Gesicht für immer zu vergessen. Wie um sich zu beruhigen beschwört er mehrere Seiten lang Namen anderer Verliebter herauf. Für einen Moment wird er so doch Teil einer Gemeinschaft. Heringer hatte vorab für dieses Kapitel eine Website eingerichtet, auf der Le­se­r:in­nen ihm von ihrer ersten Liebe erzählen konnten. Wenn sie wollten, wurden ihre Namen in diese Passage aufgenommen. Als Akt des gemeinsamen Erinnerns.

In der Danksagung schreibt Heringer: „Ich bin weniger vereinzelt wegen dieser Namen.“ Ein Effekt, der sich auch beim Lesen seines Romans einstellt.

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