: „Ich kenne diese Welt ziemlich gut“
Die Schauspielerin Ariane Labed debütiert mit der Literaturadaption „September & July“ als Regisseurin. Sie spricht über komplexe Figuren und ihren Einsatz für einen Wandel in der Filmbranche

Interview Thomas Abeltshauser
Gleich für ihre erste Kinorolle in Athina Rachel Tsangaris „Attenberg“ wurde Ariane Labed 2010 in Venedig als beste Darstellerin ausgezeichnet. Seitdem prägte die 1984 in Athen geborene Französin die Neue Welle des griechischen Kinos maßgeblich mit, vor allem in „Alpen“ und „The Lobster“ von Yorgos Lanthimos, mit dem sie seit 2013 verheiratet ist. Nun präsentiert die 40-Jährige ihr Regiedebüt, „September & July“, über zwei jugendliche Schwestern und ihre symbiotische Beziehung, die sie als Mischung aus schwarzhumoriger Charakterstudie und klaustrophobischem Schauermärchen inszeniert.
taz: Frau Labed, Ihr Film basiert auf dem 2020 erschienenen Roman „Die Schwestern“ der britischen Autorin Daisy Johnson. Was hat Sie daran interessiert?
Ariane Labed: Mich haben vor allem die beiden Mädchen und ihre ambivalente Beziehung angezogen, wie die weibliche Psyche in der Pubertät und in der Dynamik einer Familie eingefangen wurde. Und ich war fasziniert von Johnsons Schreibstil. Sie ist eine gefeierte Gothic-Autorin und steht für eine Kultur, die ich kaum kannte. Für mich ging es also darum, mir diese Welt zu eigen zu machen. Ich wollte nicht die Kästchen des Genres abhaken, sondern meinen eigenen Zugang finden. Für mich standen dabei die weiblichen Figuren im Mittelpunkt, die so komplex sind und Eigenschaften haben, die normalerweise eher mit Männlichkeit in Verbindung gebracht werden, wie Gewalt oder Manipulation.
taz: Die Beziehung zwischen den beiden Schwestern ist anfangs liebevoll und beschützend …
Labed: … und entpuppt sich nach und nach als dunkel und krank. Es geht darum, wie Liebe, sogar innerhalb einer Familie, zu etwas sehr Gefährlichem werden kann, wenn es keine Grenzen gibt. Oft verwechseln wir Liebe mit gegenseitiger Abhängigkeit. Wenn wir uns an unsere Liebe klammern und uns von den Traumata der anderen ernähren, wird es toxisch.
taz: Wie haben Sie sich die Geschichte zu eigen gemacht?
Labed: Ich habe versucht, sie mit meinen eigenen Erfahrungen in Verbindung zu bringen, die Gefühle und Gedanken als Jugendliche, was es heißt, zwei ältere Schwestern zu haben. Mit diesem Rebellischen und Exzentrischen konnte ich mich gut identifizieren, weil ich damals selbst so war. Jeder Teenager sucht nach seinem Platz in der Welt und hat Schwierigkeiten, sich anzupassen. Dieses Austesten von Grenzen, die Machtspiele mit den Geschwistern, machen wir alle durch, wenn wir unsere eigene Persönlichkeit aufbauen und unsere Identität finden. Im Film ist es nur ein bisschen heftiger als in den meisten Familien.
taz: Sie sind Französin, pendeln zwischen London und Athen, arbeiten international. Haben Sie Ihren Platz in der Welt gefunden?
Labed:Nein. Und ich glaube auch nicht, dass ich das will. Ich möchte meine Reise fortsetzen, in Bewegung bleiben. Wir Menschen sind unser ganzes Leben lang auf der Suche nach etwas, wer wir sind, wo wir hingehören. Das birgt auch die Gefahr, ständig unzufrieden zu sein. Ich versuche, im Moment zu leben. Wo, ist dann zweitrangig.
taz: „September & July“ haben Sie auf 16 und 35mm gedreht. Wie haben Sie den Stil des Films entwickelt?
Labed: Die Ästhetik ergab sich aus der Entscheidung, nicht digital zu drehen. Ich wollte das Organische, auch das Schmutzige von echtem Filmmaterial. Und wir haben versucht, ein Gefühl von Zeitschichten zu vermitteln, vor allem im Haus auf dem Land. Auch wenn es mir zunächst nicht bewusst war, habe ich es nach eigenen Erinnerungen gestaltet. Das Haus sah am Ende dem meiner Großeltern sehr ähnlich. Und ich versuche, mit dem zu brechen, was wir in Filmen für schön halten, besonders wenn es sich um weibliche Figuren handelt. Das Kino trägt sehr viel zur Aufrechterhaltung des Status quo bei. Es gilt als toll, schön und sexy zu sein. An diesen Normen misst sich für viele Mädchen und Frauen der Selbstwert. Ich wollte über Sexualität und Begehren sprechen, ohne sie zu sexualisieren. Das drückt sich etwa in der Kleidung aus, die wir verwenden. Die Mädchen versuchen nicht, jemandem zu gefallen.
taz: Wie herausfordernd war es, den Film nach Ihren Vorstellungen zu realisieren?
Labed: Ich war sehr froh, den Film in Irland drehen zu können, weil ich dort nicht kämpfen musste, um zum Beispiel einen Intimitätskoordinator zu bekommen. Das war für mich sehr wichtig. In Frankreich wird immer noch wie zu Godards Zeiten gearbeitet, es ist etwa sehr schwer, dem Produzenten klarzumachen, dass die Sicherheit für alle Priorität hat. Ich bin mir sicher, dass ich in Irland weniger Probleme hatte, als wenn ich den Film in meinem eigenen Land gemacht hätte, was absurd ist. Und ich arbeite hart daran, das zu ändern.
taz: Inwiefern?
Labed: Ich setzte mich in der französischen Filmbranche für Chancengleichheit ein. Wir haben zwar vergleichsweise viele Regisseurinnen, aber von 50/50 sind wir noch weit entfernt. Und es geht nicht nur darum, eine Frau auf dem Regiestuhl zu haben. Wenn wir die patriarchalische Arbeitsweise beibehalten und diese Branche nicht von innen heraus verändern, werden wir immer noch eine Person haben, die denkt, alles von jedem verlangen zu können. Das braucht einen größeren und längeren kulturellen Wandel, eine Änderung des Denkens und der Einstellung.
taz: Welches Kino hat Sie geprägt?
Labed: Mich haben vielen Regisseur*innen beeinflusst. Vor allem Chantal Ackerman. Alles, was ich tue und was ich bin, ist von ihrem Universum inspiriert. Auch Ulrich Seidl, ich liebe seinen Humor und seine Dunkelheit. Kelly Reichardt, wie sie mit Dialogen umgeht. Alice Rohrwacher für die Freiheit, mit der sie beim Drehen Normen in Frage stellt. Es gibt so viele …
taz: Ihr Partner im Leben und in der Kunst ist Yorgos Lanthimos. Inwieweit beeinflussen Sie sich gegenseitig?
Die Schauspielerin und Regisseurin wurde 1984 in Athen geboren. Sie studierte in Frankreich Tanz und Kunst. Ihre erste große Rolle in einem Film war in Athina Rachel Tsangaris „Attenberg“ (2010). In Yorgos Lanthimos’Spielfilm „Alpen“ (2011) spielte sie ebenfalls eine tragende Rolle.
Ihren internationalen Durchbruch hatte sie in „Assassin’s Creed“ (2016) von Justin Kurzel. „September & July“ ist ihr Regiedebüt.
Labed: Wir haben im Laufe der Jahre Gedanken und Ideen ausgetauscht, aber ich kann nicht genau sagen, inwieweit wir uns damit gegenseitig geprägt haben. Yorgos ist ein Regisseur, den ich sehr bewundere, also hat er mich natürlich inspiriert. Und es ist hilft, wenn man nicht nur den Regisseur kennt, sondern auch den Mann dahinter …
taz: Sehen Sie Ihre Zukunft vor allem hinter der Kamera?
Labed: Ich möchte beides machen, auch weiterhin schauspielern. Es ist schwierig, Zeit für beides zu finden, aber das ist der Traum. Ich glaube, dass es sich gegenseitig befruchtet. Dies war mein erster eigener Spielfilm, aber ich war in den letzten 15 Jahren weit öfter am Set als die meisten Regisseure, mit denen ich gearbeitet habe. Ich kenne diese Welt also ziemlich gut. Ich kenne die Gefahren, die Machtdynamik.
taz: Gerade sind Sie auch in einer Nebenrolle im oscarprämierten „Der Brutalist“ zu sehen. Inwiefern hat die Erfahrung, bei einem Spielfilm Regie zu führen, Ihre Arbeit als Schauspielerin verändert?
Labed:Schauspielen ist so viel entspannter, weil man weniger Verantwortung hat. „Der Brutalist“ haben wir vor meinem Film gedreht, aber danach spielte ich noch in einer französischen Serie, weil ich Geld verdienen musste. Und da habe ich gemerkt: Wow, ich kann mich zurücklehnen und ein bisschen genießen. Vielleicht ist es an der Zeit, mich als Schauspielerin selbst nicht so wichtig zu nehmen. Und einfach dem Prozess zu folgen und den Leuten zu vertrauen. Aber ich weiß eben auch, was man anders und besser machen kann, wie man Menschen respektieren und gute Arbeit leisten kann. Ich werde nie wieder den Mund halten.
„September & July“. Regie: Ariane Labed. Mit Mia Tharia, Pascale Kann u. a. Frankreich/Vereinigtes Königreich/Irland/Griechenland/Deutschland 2024, 100 Min.
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