: Ich danke mir
Der Schauspieler Timothée Chalamet wagte es, einen Preis ohne falsche Bescheidenheit entgegenzunehmen. Am Sonntag sind die Oscars, und unsere Autorin fordert: mehr davon!
Deutschland hat den Karneval, die USA haben Award Season.Von November bis März hüllen sich Stars und die, die es werden wollen, in extravagante Kostüme und halten ihre Designerhandtaschen auf, um so viel goldglänzende Kamelle wie nur möglich aufzufangen: Golden Globe Awards, Grammy Awards, Critics’ Choice Awards, Kids’ Choice Awards, Independent Spirit Awards, Gotham Awards. Hier wie dort kommt die fünfte Jahreszeit nun zu ihrem Höhepunkt: Rosenmontagszug in Köln, Oscars in Los Angeles.
Bei den Academy Awards nominiert als bester Hauptdarsteller für seine Performance als Bob Dylan in „Like a Complete Unknown“ ist unter anderem der 29-jährige Timothée Chalamet. Sollte er gewinnen, darf man gespannt sein, ob er auf der Bühne, wie auch schon vor ein paar Tagen bei den Screen Actors Guild Awards, etwas ganz und gar Unnärrisches tut: nämlich sich selbst ernst zu nehmen. Bei seiner Acceptance Speech am Sonntag wirkte er weder überrascht noch überwältigt, dankte kurz seiner Mutter und dann in erster Linie der eigenen Ambition. Mehr als fünf Jahre habe er sich auf Dylan vorbereitet, generell strebe er an, einer der ganz Großen zu werden. So wie Marlon Brando, Michael Jordan oder Michael Phelps.
Na hoppla. Welch Hybris! Wer diese Rede so richtig fühlendürfte, ist die deutsche Bestseller-Autorin Caroline Wahl, die vergangenes Jahr erst wagte, öffentlich auszusprechen, dass sie mal Deutschlands bekannteste Schriftstellerin sein will, um dann auch noch einen beleidigten Instagram-Post darüber zu verfassen, nicht für den Deutschen Buchpreis nominiert worden zu sein. Das Feuilleton stritt, ob das erfrischend, peinlich oder beides ist. Und weil wir Um-die-dreißig-Jährigen hier schon alle dabei sind, uns irgendwas anzumaßen, mache ich, als Deutschlands führende Meinungsmacherin in spe, das auch und bestimme ein für alle Mal: JA! Ja, bitte mehr davon, denn es ist echt, es ist roh, und Bescheidenheit dauert einfach zu lang.
Insbesondere bei den Oscars, wo auf der Bühne geschrien und geschluchzt und in Schockstarre kein Wort herausgebracht wird, als sei die Chance, dort oben zu stehen, nicht 1:5 gewesen. Nein, keine Rede vorbereitet, einfach nicht damit gerechnet, danke Meryl, danke Beyoncé, danke Klassenlehrer, der schon lange tot ist, danke allen, die etwas in MIR, diesem wandelnden Haufen Inkompetenz, gesehen haben. Neinneinneinneinnein, sage ich da, genug damit. DU warst es, der jeden Tag am Set die schwere Ritterrüstung trug, DU hast die Kuss-Szenen mit dem Kollegen mit dem Knoblauchatem durchgestanden, DU hast extra Klavierstunden genommen für diese Rolle! Own it!
Aber im Ernst: Ich rate allen, die am Sonntag oder irgendwann anders auf die Bühne müssen, um geehrt zu werden, sich noch mal die Dankesrede von Shirley MacLaine (beste Hauptdarstellerin 1984) anzuschauen. „Ich fang gleich an zu heulen, weil diese Veranstaltung so lange dauert wie meine Karriere“, sagte sie und pries das Potenzial, das wir ihrer Meinung nach alle in uns tragen, wenn wir überzeugt sind, etwas wirklich zu verdienen. „Ich verdiene das hier“, sagte sie dann, hielt den Oscar in die Höhe und verschwand. Von Reden wie diesen profitieren wir alle, denn sie sorgen dafür, dass Award Shows, die natürlich grundsätzlich völlig albern sind, schneller enden. Und vielleicht, ganz vielleicht hinterlassen sie in der ein oder anderen Künstlerin der Zukunft das Bewusstsein, dass sie ihren Erfolg nicht immer allem und jedem schuldet – sondern besonders sich selbst.
Leonie Gubela
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