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Blankenesewareinmal

Im neuen Roman von Aiki Mira ist Hamburg noch nicht einmal mehr eine Erinnerung. Aber in „Neongrau“, das vor gut einem Jahr erschienen ist, kann man der Stadt herrlich beim Untergehen zuschauen – und dank einer feinen Hörspielfassung des WDR jetzt auch zuhören

Die Möwen am Himmel wird es auch nach der Sturmflut geben Foto: imago

Von Benno Schirrmeister

Ach, das ist aber schade: In „Proxi“, dem neuesten und elegantesten Roman von Aiki Mira, der noch viel später spielt, gibt es Hamburg gar nicht mehr. Da ist die Stadt längst untergegangen, weg. Bestenfalls sind Überbleibsel von ihr eingeflossen in die Megastadt, auf die Europa zusammengeschnurrt ist: Europolis grenzt schließlich an das, was die verdampften Nordmeere – der Begriff aus der Geografie einer zukünftigen Welt, meint ja wohl die Nordsee mit – zurückgelassen haben werden.

Was jenseits dieser Stadt liegt, ist eine Wüste aus salzigem Sand und verdorrten Gewächsen. Die Bäume haben im Sterben Neonlaserfarben angenommen. „Nichts können diese Bäume mit ihrer Umwelt austauschen“, heißt es im Prolog. Das Profil dieser Landschaft besteht aus Altplastik, das sich mit organischen Resten verbunden hat.

Und trotzdem ist da, unwahrscheinlich genug, Leben. Wir sind also nicht in einer Dystopie. Ganz im Gegenteil: Darin, dass ein wie auch immer beschädigtes Leben in diesem Danach weiterhin möglich sein soll, lässt sich der –zugegebenermaßen etwas flatterige – Flug erkennen, zu dem Utopie überhaupt noch fähig ist. Sie auszubuchstabieren: das ist der Ansatz von Aiki Miras Fiktionen.

Aiki Mira ist ein Phänomen, das manche aus dem SWR-Podcast „Das war morgen“ kennen, der Sci-Fi-Hörpsiele aus dem Senderarchiv holt. Im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek finden sich erst ab 2021 Einträge zu diesem Namen. Als Aiki Miras Wirkungsort wird „Hamburg“ genannt, und unter dem Stichwort „weitere Angaben“ steht: „Autorx (non-binär, keine Pronomen) u. a. von Science-Fiction-Literatur“. Mittlerweile gehören zum Eintrag vier ausgewachsene Romane, von denen der kürzeste immerhin noch 192 Seiten umfasst: Der Erstling „Titans Kinder“ erzählt, irgendwo zwischen Stanisław Lem und Octavia E. Butler schwebend, von einer Weltraumreise.

Vier Romane in drei Jahren, das ist allein schon ein ziemlich krasser Output. Hinzu kommen einige Essays, ein Manifest und ein gutes Dutzend kurze Stories. Zwischendurch ging sogar das Gerücht, Aiki Mira sei der Alias eines avancierten generativen Computerprogramms. Schließlich ist der Vorname ja zusammengesetzt aus den beiden geläufigen Abkürzungen für künstliche Intelligenz. Japanisch gelesen könnte der Name aber auch als „harmonisierendes Gemüt“ übersetzt werden.

Aiki Mira entwirft, gar nicht so verbreitet im Genre, gerne Szenen gelingender neuer Formen des Zusammenlebens zwischen Menschen, Maschinen, Tieren und nichtmenschlichen Wesen, die es noch nicht gibt. Spielen lässt Aiki Mira diese Geschichten aber auf der Erde, in einer Welt, die wirklich nicht mehr auf den Untergang warten muss, oder besser: ihn nicht mehr, mithilfe von Leugnung und hoffnungsfroher Selbsttäuschung, verdrängen kann. Die Klimakatastrophe findet hier statt, vom Menschen verursacht, ohne dass Aiki Mira sie zum Inhalt der Bücher machen würde. Sie gehört einfach nur, als fortlaufender, unabschließbarer Prozess zum Weltenbau. Die Klimawandelfolgen seien „Geschehen, die keine Ausnahme mehr sind, sondern die Regel“, schreibt Aiki Mira im Essay „Weil Kollaps die Konstante ist“. „Der Planet“, heißt es in „Proxi“ einmal noch schöner, „denkt sehr laut über das eigene Sterben nach“.

Dass Hamburg in diesem Roman nur mehr eine schon lange vergessene Geschichte ist, begraben unter pilzblühendem Plastiglomerat, das nur das Leben selbst durchdringen könnte, ist erzähllogisch sinnvoll. Aber es ist eben trotzdem schade. Denn eine der Schönheiten von Sci-Fi oder hier Post-Cli-Fi, wie Mira selbst das nennt, Post-Climate-Fiction, ist die Art und Weise, wie die Aktualität der Lesenden in die erzählte Zukunft ragt: diese besteht ja aus Erinnerung an die Gegenwart. Und die bekommt dadurch eine ganz neue Bedeutung, wie Søren Aabye Kierke­gaard oder irgendein Managementfuzzi-Coach mal geschrieben haben wird.

In „Neongrau“ ist es gerade das Bild des teiluntergegangenen Hamburg, das fasziniert. Es ist liebevoll realistisch und auch mit einer gewissen, aus diesem Realismus abgeleiteten Komik gezeichnet, die sich mitunter ähnlich anfühlt wie Verzweiflung. Besser noch als im Buch kommt das im Hörspiel rüber. Das läuft ab Mitte März jeweils montags im Radio, aber der WDR hat seine zwölf Teile schon jetzt, pünktlich zur Hamburg-Wahl, in die ARD-Audiothek gestellt. Manchmal dienen darin allzu naheliegende Technobeats als Hintergrund-Sounds. Aber dafür fließen die Ausrufe und der Slang, den Aiki Mira aus Arabismen, Yoruba-Wörtern und Missingsch modelliert hat, dem fantastischen Sprecher-Ensemble so geläufig von den Lippen, als wären sie mit dieser Kunstsprache aufgewachsen. Das ist großartig. Und toll verdichten die Dialoge, die Mira zusammen mit dem erfahrenen Hörspiel-Regisseur Martin Zylka aus ihrem Erzähltext gewonnen hat, die notwendigen Weltenbau-Infos, die inneren Monologe und die Handlungsstränge zu plausiblen Gesprächen. Die bleiben dabei von einer schönen norddeutschen Kargheit. Zum Beispiel in der folgenden Szene im neuen Armenviertel der teilgefluteten Nordsee-Metropole.

Der Stoff

Aiki Mira lebt in Hamburg und verfasst unter anderem Science-Fiction-Literatur.

Als Roman sind bisher erschienen: „Proxi“ (2024), „Neongrau“ (2023), „Neurobiest“ (2023) und „Titans Kinder“ (2022).

Als Hörspiel ist „Neongrau“ in der ARD-Mediathek abrufbar.

Denn ja doch, die Küstenlinie wird Hamburg erreichen. Das wird auch Big-Data-basierten, seriös-wissenschaftlichen Projektionen zufolge schon 2050 der Fall sein – es sei denn, das 1,5-Grad-Ziel würde künftig wieder unterschritten. Darauf sollte man aber besser nicht wetten. In Miras Vorstellung vom frühen 22. Jahrhundert ist das jedenfalls schon so natürlich geworden, dass eine Verursacher- oder gar Schuldfrage überhaupt niemandem mehr in den Sinn kommen kann. Stattdessen hören wir einen irgendwie schmutzigen Wellenschlag am schlammigen Ufer lecken. Ein paar Möwenschreie und das – für selbstgebastelte Angeln allerdings zu akkurate – Sirren von Spinnrollen bilden die Geräuschkulisse des Gesprächs des Containerbewohners Sven Breckwoldt mit der Slum-Legende Ben Wozniak, dessen polnischer Name vielleicht auf den Una-Bomber anspielt, den Anti-Technik-Terroristen Ted Kaczynski.

Stefan Lampadius als Sven eröffnet den Dialog mit dezent hamburgisch getönter Empörung: „Weißt du, wie sie uns in anderen Vierteln nennen? ‚Weißer Abschaum‘ – nur weil wir aus Blank kommen.“ Kurz skizziert Vanessa Loibl als Erzählerin mit einem Satz kurz das Setting – die zwei sitzen auf der Terrasse eines schwimmenden Wohncontainers. Und dann entgegnet Wozniak mit Sven Seburgs tiefer, müder, und whisky-rauer Stimme: „Nein, Sven, sie sagen ‚weißer Abschaum‘ weil wir weiß und arm sind, verstehst?“

Die Misere der Zukunft heißt Weißsein, Armsein und deshalb in Blank leben – das ist lustig, auch wenn der abgehängte White Trash da gleich Bombenattentate planen und später auch durchführen wird: Weißsein, das bedeutet heute noch immer ein Privileg, das kaum je in Frage gestellt wird. Und klar, Blank, dieses schwimmende Slum, dessen Bewohner illegal angeln und wo mutierte Ratten den mit synthetischen Drogen zugedröhnten Leuten in die Münder kriechen, um die Gedärme anzuknabbern – also dieses wirklich schäbige Blank, ist das, was von Blankenese übrig blieb.

„Neongrau“ spielt eben 30 Jahre nach der Sturmflut, die das gesamte Villenviertel am nördlichen Elbufer fortgerissen und das Binnendelta der Elbe in einen Brackwassersee verwandelt hat

Blankenese ist von den reichen Stadtteilen im Bezirk Altona der berühmteste, auch wenn das Durchschnitts-Einkommen pro Steuerpflichtigen dort 2020 bloß bei 130.000 Euro lag, also fast 40.000 niedriger als bei den benachbarten Nienstedtern. Aber die kennt ja keiner.

Selbstverständlich wird sich das Meer in Wirklichkeit zuerst die Bereiche am südlichen Ufer geholt haben, Finkenwerder, Cranz und Jork und das Alte Land in Niedersachsen, wo es keine Hügel gibt. „Neongrau“ aber spielt eben 30 Jahre nach der Sturmflut, die das gesamte Villenviertel am nördlichen Elbufer fortgerissen und das Binnendelta der Elbe in einen Brackwassersee verwandelt hat. Am Ende werde es „immer für bestimmte Leute gut werden, für andere weniger“, hat Aiki Mira mal gesagt. Und zu den Freiheiten aller Autorx gehört es, da auch mal für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen, wenigstens in der Fantasie. Wenigstens in der Literatur.

Und dann sitzen da die zwei Blank-Bewohner und blicken hasserfüllt auf den Glanz der Stadt, auf die angestrahlte, schwimmende Riesen-Arena, die das neue Zentrum von Hamburg markiert. Dorthin, wo die neue Oberklasse ihre glamourösen Gladiatorenkämpfe austrägt. Wo die transhumanen Fans aus ihren elektronisch aufgepimpten, von innen leuchtenden Augen eine tolle Stadion-Choreo hinlegen und ihre Tech-Stars vergöttern. Dorthin, wohin sie ihre Rache tragen wollen.

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