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Archiv-Artikel

Demokratie braucht Individuen

KRITISCHES DENKEN Der italienische Philosoph Paolo Flores d’Arcais beklagt Defizite linker Theorien

Ein überzeugendes Plädoyer für eine Demokratisierung der Demokratien

VON RUDOLF WALTHER

Zu den Defiziten linker Theorien gehört die Vernachlässigung des Individuums. Linke Theorien und linke Politik konzentrieren sich auf das Ganze und halten Individuen und Individuelles für zweitrangig. Als Beleg dafür nennt der italienische Philosoph Paolo Flores d’Arcais die Unfähigkeit vieler Linker, die Entleerung und den Substanzverlust demokratischer Formen zu erkennen und zu deuten. Die überall wachsende Zahl von Nichtwählern ist die Antwort von Individuen an das medial inszenierte Politikspektakel. Die vier Essays des Autors stellen sich dieser Herausforderung und fragen nach den Gründen, warum Linke die Absage von vielen Individuen an die Politik nicht begreifen.

Einen Grund für diese Begriffsstutzigkeit sieht der Autor darin, dass die in den 80er-Jahren und vor allem nach 1989 stark verunsicherte Linke „die Mode“ übernahm, den konstitutiven Gegensatz von links und rechts für „obsolet“ zu erklären. Paolo Flores d’Arcais will dagegen daran festhalten, dass sich linke von anderen politischen Strömungen dadurch unterscheiden können und müssen, welchen Rang sie in Theorie und Praxis kritischem Denken, sozialer Gerechtigkeit und den materiellen Interessen der Schwächsten einräumen.

Hört sich dies noch vergleichsweise traditionalistisch an, so begibt sich der Autor auf anderen Gebieten auf ungewohntes Gelände. Demokratien, die sich nur als „Systeme von Garantien für Rechte und Verfahren“ verstehen, nennt er „domestizierte Demokratien“. Im Gegensatz dazu stehen liberale Demokratien, deren oberstes Ziel die Annäherung an das Prinzip der Selbstbestimmung bildet. Zentral für linke Theorie und Praxis sind demnach der Schutz des Individuums und seiner Rechte. Soziale Rechte und politische Bürgerrechte sind gleichrangig und gelten „für alle“: „Das Individuum ist schon bei der Geburt unterdrückt, wenn es nicht mit gleichen Chancen zu Welt kommt.“ Gleiche Chancen beim Zugang zu Gesundheit, Wohnung, Arbeit und Bildung sieht Paolo Flores d’Arcais als Voraussetzungen der Demokratie.

Weil „wirtschaftliche Freiheit“ und private Verfügung über Eigentum unausweichlich „zu einer großen Disparität in der Verteilung der Ressourcen“ führen und einer substanziellen Demokratie mehr schaden als nützen, plädiert der Autor für eine praktische Politik, „die den politischen Einfluss neutralisiert, der aus der ungleichen Verteilung des Reichtums erwächst“. Bei der Wahrung von Chancengleichheit in Wahlkämpfen, in denen alle Parteien gleiche Sendezeiten und gleichen Raum in den Printmedien bekommen, ist eine solche Neutralisierung wirtschaftlicher Macht relativ leicht zu realisieren. Wie das Prinzip im politischen Alltag realisiert werden könnte, ist schwer zu sagen.

Individuen und deren Rechte zu schützen ist zentral für linke Theorie und Praxis

In einem gewissen Sinne weicht Paolo Flores d’Arcais dem Problem mit dem Hinweis auf die „dramatische Verletzlichkeit der Demokratie“ aus. Überlebens- und Widerstandschancen gegen starke wirtschaftliche Kräfte hat die Demokratie ihm zufolge nämlich nur, wenn die große Mehrheit der Bevölkerung die Demokratie wolle und eine „Hegemonie des demokratischen Individuums“ installiert werde. Nur das „demokratische Individuum“ zieht nämlich allgemeine Interessen und aktive politische Teilhabe „korporativen Interessen“ von Parteien und Verbänden vor. Die „demokratischen Individuen“ müssten also die Demokratie so retten, wie sich Münchhausen aus dem Sumpf zog. Wenn das stimmte, müsste man um die Zukunft der Demokratien bangen.

An vielen Stellen spürt man, dass Paolo Flores d’Arcais vor allem von Italien unter Silvio Berlusconi spricht. Nicht überall sind Medienmacht, Parteiensumpf und Korruption eine so innige Verbindung eingegangen wie dort. Daraus erklärt sich auch der hohe Stellenwert, den der Autor dem Prinzip der Legalität einräumt. Sie ist die „Macht der Machtlosen“ und nicht das Instrument der herrschenden Parteipolitik und einer ihr hörigen Justiz: „Eine Politik der Legalität“ ist „heute die radikalste aller möglichen Revolutionen“. Die Politik der Legalität, die Paolo Flores d’Arcais meint, ist freilich nicht zu verwechseln mit der Politik von Law and Order, die „Strenge gegenüber den Schwachen anstatt gegenüber allen“ praktiziert.

Selbst wenn man Paolo Flores d’Arcais nicht bei allen Pirouetten folgen mag, überzeugen sowohl seine Kritik an der medial inszenierten Parteienherrschaft wie sein Plädoyer für eine Demokratisierung der bestehenden Demokratien.

■ Paolo Flores d’Arcais: „Die Linke und das Individuum. Ein politisches Pamphlet“. Aus dem Italienischen von Roland H. Wiegenstein. Wagenbach Verlag, Berlin 2009, 110 Seiten, 9,90 Euro