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„Sie benutzen uns als Blitzableiter“

Die Lübecker Telefonseelsorge schlägt Alarm, weil ihren Mitarbeitenden immer mehr Aggression entgegenschlägt. Ein Grund: Das Gefühl von Kontrollverlust in der Pandemie

Werden gelegentlich als Prellbock missverstanden: Mit­ar­bei­te­r:in­nen der Telefonseelsorge, hier in Hamburg Foto: Markus Scholz/dpa

Interview Friederike Gräff

taz: Herr Gottschalk, was war für Sie der Anlass, mit der Aggression gegenüber der Telefonseelsorge an die Öffentlichkeit zu gehen?

Frank Gottschalk: Seit etlichen Monaten vergreifen sich Menschen bei Anrufen bei der Telefonseelsorge im Ton. Ich hatte nicht vor, damit an die Presse zu gehen. Aber als ich es unserem Pressebeauftragen erzählte, wurde der sehr hellhörig. Die Aggressionen haben in letzter Zeit sehr zugenommen.

Im ersten Moment denkt man: Das ist doch absurd, es sind doch Anrufende, die Hilfe suchen. Warum pöbeln sie?

Gottschalk: Wir erleben am Telefon ohnehin so ziemlich alles, was unter Menschen vorkommt. Natürlich gibt es bei uns Anrufe von Menschen, die tief in Krisen stecken und unbedingt ein offenes Ohr brauchen. Aber es gibt eben auch Menschen, die aus anderen Motivationen anrufen. Ich glaube, die können selber manchmal gar nicht gut sagen, was sie gerade anrufen lässt. Sie brauchen ein Ventil. Und Telefonseelsorge ist eben anonym und kostenfrei. Das reicht für manche Menschen, um uns auch als Blitzableiter zu benutzen.

Für politische Frustration?

Gottschalk: Es hat durchaus auch mit politischen Richtungen zu tun. Unzufriedenheit über die allgemeine Lage, sowohl innenpolitisch als über auch die große Weltlage, die Sorgen bereitet: Nahostkonflikt, U­krainekonflikt, Klimawandel, einbrechende Wirtschaftsdaten, Gesundheitswesen, Rente. Es gibt so viele Themen, die Angst machen.

Aber warum endet das in Pöbelei?

Gottschalk: Manchmal erleben wir hier, dass ein Gespräch kippt. Und das fängt vielleicht schon damit an, dass eine Telefonseelsorgerin oder ein Telefonseelsorger die richtige Frage stellt, die aber nicht gerne gehört wird. Und dann wird jemand aggressiv.

Was kann denn so eine richtige Frage sein?

Gottschalk: Das kann schon die konkrete Nachfrage sein. Telefonseelsorge ist nicht dafür da, über politische Themen im Allgemeinen zu reden. Wenn also jemand zum Beispiel unzufrieden ist mit der innenpolitischen Lage, versucht man nachzufragen: „Möchten Sie mir sagen, was konkret Sie in Ihrer eigenen Lebensführung beschwert, also wo sich bestimmte Dinge ganz konkret in Ihrem Leben auswirken?“ Da möchte der Anrufende gar nicht hin, und dann heißt es: „Das müssen Sie doch wissen, was sind Sie denn für eine? Und da habe ich gedacht, Sie sind schlauer“.

Haben Sie Strategien, damit das Gespräch noch die Kurve kriegt?

Foto: privat

Frank Gottschalk59, ist Pastor und Leiter der Telefonseelsorge in Lübeck, bei der über 60 Ehrenamtliche aktiv sind.

Man kann manchmal noch versuchen, Leute wieder einzufangen: In diesem Ton möchte ich nicht mit Ihnen sprechen, so können wir auch nicht miteinander sprechen. Manchmal gelingt es, manchmal auch nicht.

Sie selber sind ja auch in der Telefonseelsorge praktisch tätig. Ist es manchmal schwierig, nicht selbst aggressiv zu werden?

Gottschalk: Es geht nicht darum, dass wir mit gleicher Münze zurückzahlen. Aber es kann dazu führen, dass wir uns dann kurzerhand von jemandem verabschieden und auflegen. Wenn man dann am Telefon als Telefonschlampe beschimpft wird, perlt das nicht mal eben so an einem runter. Das ist einer Mitarbeitenden passiert und ich bin froh, dass es wenigstens eine sehr erfahrene Telefonseelsorgende war. Dabei muss man sich immer klar machen: Bei der Telefonseelsorge sitzen Ehrenamtliche, die das in ihrer Freizeit machen.

Was raten Sie den Mitarbeitenden in solchen Fällen?

„Wenn man als Telefonschlampe beschimpft wird, perlt das nicht an einem runter“

Gottschalk: Es gibt Supervision und es gibt Weiterbildungen. Wir versuchen den Leuten klar zu machen: Nehmen Sie Dinge nicht persönlich. Der Mensch, der da anruft, weiß nicht mal, dass er Sie am Telefon hat. Der weiß nicht mal, wo Sie sitzen. Es gibt Menschen, die suchen eine Prallfläche für die eigene Unzufriedenheit im Leben. Aber Sie müssen sich nicht alles gefallen lassen. Und trotzdem ist das eine Kränkung, eine Verletzung, wenn plötzlich jemand mit einer Beleidigung durchs Telefon kommt.

Ich hätte gedacht, dass Pöbelei eher im Internet stattfindet, weil ein Telefonat doch schon viel persönlicher ist.

Gottschalk: Viele Leute haben eine recht kurze Zündschnur, und nach meiner Einschätzung hat das in der Coronazeit deutlich zugenommen. Menschen haben Kontrollverlust erlebt und weil das Angst erzeugt, gehen sie sozusagen in Abwehrhaltung. Wenn dann irgendwas nicht so ist, wie man das gerade will und braucht, dann ist die Bereitschaft hoch, in die Aggression zu gehen.

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