: Im Subtext steht Zerrissenheit
Ukrainische Präsenz demonstrieren, auch drei Jahre nach Beginn von Putins Angriffskrieg: Die Malerin Kateryna Lysovenko und das Videokunstduo Roman Khimei & Yarema Malashchuk sind im Kunstverein Hannover zu sehen
Von Bettina Maria Brosowsky
Wie wohl die Malerinnen Charlotte Salomon und Elfriede Lohse-Wächtler als 70-Jährige ausgesehen hätten? Und der Künstler Felix Nussbaum? Die drei haben solch Alter nicht erreicht. Sie wurden unter dem NS-Regime ermordet: Salomon mit 26 Jahren, 1943 im KZ Auschwitz, Nussbaum mit seiner Frau, der polnischen Künstlerin Felka Platek, ein Jahr später im selben Lager, er wurde 40 Jahre alt. Und Lohse-Wächtler fiel nach diagnostizierter Schizophrenie den „Euthanasie“-Aktionen des Regimes zu Opfer, 1940, im 41. Lebensjahr. Ihre fiktiven Altersporträts zeigt die ukrainische Malerin Kateryna Lysovenko im Kunstverein Hannover. Dort teilt sie sich die Räume mit zwei Künstlerkollegen, dem Filmemacher-Duo Roman Khimei und Yarema Malashchuk aus Kyjiw zu einer Doppel-Solo-Schau.
Kateryna Lysovenko, 1989 in Odessa geboren, hat in ihrer Heimatstadt an der Nationalen Akademie der bildenden Künste und Architektur studiert. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 lebt sie mit ihren Kindern in Wien. Dort sind die in Hannover gezeigten rund 50 Malereien entstanden. Den drei Altersporträts gesellt Lysovenko ein viertes hinzu: das des 1964 geborenen ukrainischen Künstlers Viacheslav Mashnitskiy. Er wurde 2022 während der russischen Besatzung der Stadt Cherson verschleppt, sein Schicksal ist seither ungewiss. Sein imaginiertes Alter von 70 Jahren steht für die Angst um seinen möglichen, gewaltsamen Tod. Lysovenko hat den Porträt-Raum „Wartezimmer“ genannt und um eine Parkbank aus Cherson bereichert.
Aber worauf warten die Menschen, welche Qualität hat ihr Transitstatus? Lysovenko zählt zu einer Generation jüngerer Ukrainer:innen, die 2013/14 den Euromaidan miterleben konnten, die anschließende Annexion der Krim und den beginnenden Krieg im Donbass. Sie sind zerrissen zwischen Kriegstraumata, Flucht oder auch Deportation und der Hoffnung auf eine Zukunft in einer befriedeten, demokratischen Ukraine. Diese Gefühlswelt ist der Subtext von Lysovenkos Malerei, selbst wenn sie symbolistisch verschlüsselt erscheint, belebt ist von geisterhaften, mythologischen oder erträumten Wesen. Wie im Fluchttreppenhaus des Kunstvereins, wo sie zusätzlich zu ihrer Einzelschau unter dem Titel „Angel Folding the Sky“ eine Figurenwelt zwischen Himmel, Erde und kultischen Höllenkreisen ausbreitet.
In ihrer figurativen Motivwahl und einem transparenten, aquarellhaften Farbauftrag gilt Kateryna Lysovenko ein wenig als die ukrainische Maria Lassnig. Wie die große Österreicherin stellt auch Lysovenko den menschlichen, oft weiblichen Körper ins Zentrum ihrer Bilder, mit all den Zuschreibungen von Empfindungs- und Leidensfähigkeit, aber auch Kraft. Oft transformiert sie Körper zu Hybriden zwischen Tier und Mensch oder zu Märchenfiguren wie Meerjungfrauen. Sie führt die Rhetorik totalitärer Regime und ihre Bildpolitik vor, die Fremde oder Unangepasste zu entwürdigen versucht, indem sie diese in die Nähe des Tierischen und Abnormen rückt.
Dämonen wie Satyrn oder Pferdemenschen wie Zentauren sind aber auch fester Bestandteil südukrainischer Kulturgeschichte. Die Schwarzmeerküste zählte in der Antike zum Einflussbereich griechischer Zivilisation, die in Kunst- und Kulturschätzen überdauert hat. Lysovenkos Bild von 2023, „In der Eremitage befindliche Gegenstände diskutieren darüber, wem die Vergangenheit gehört“, zeigt eine Kreisformation aus Kleinskulpturen, Gefäßen und Gebrauchsobjekten archäologischer Provenienz. Solche Artefakte werden derzeit von Putins Truppen oft als Kriegstrophäen verschleppt: um eine Kultur auszulöschen und sich selber ihrer historischen Legitimation zu bemächtigen.
Mit diesem Thema greift Lysovenko die Plünderung zweier Museen in Cherson auf. Im Herbst 2022, vor dem Rückzug aus der südukrainischen Stadt, raubten russische Truppen das örtliche Kunstmuseum und das Heimatmuseum aus. Sie stahlen Gold der Skythen, Goten und Sarmaten: Es gilt als größter Museumsdiebstahl in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Das Verbrechen hinterließ auf ukrainischer Seite fast keine Zeugen, Moskau hält alle Einzelheiten geheim, so das ukrainische Onlinemedium Kyiv Independent, das gerade seinen Dokumentarfilm „Curated Theft“ – „Kuratierter Diebstahl“ – veröffentlicht hat. Aus der gesamten Ukraine sollen demnach mittlerweile 1,7 Millionen Kunstwerke gestohlen sein.
Im entleerten Heimatmuseum in Cherson drehten Khimei & Malashchuk 2023 ihr gut 13-minütiges Videos „Explosions Near the Museum“. Unter andauerndem russischem Beschuss fährt ihre Kamera behutsam über leere Sockel, ausgeräumte Vitrinen und die Spuren willkürlicher Zerstörung. Eine Stimme aus dem Off erzählt, wie das Museum in neuem Glanz erstrahlen würde, wenn die Schätze wieder zurückkehrten, wohl bereinigt um Relikte russischer und sowjetischer Herrschaft.
Roman Khimei, 1992 geboren, und Yarema Malashchuk, Jahrgang 1993, arbeiten seit über zehn Jahren gemeinsam an der Schnittstelle von Bewegtbild und Kunstinstallation. In Hannover zeigen sie auch zwei großformatige, wiederum sehr ruhige Videoeinrichtungen: Die Künstler stellen die Körperpositionen gefallener russischer Soldaten nach oder beobachten schlafende Kinder, die aus russischer Verschleppung heimkehren konnten.
Diese Arbeiten berühren Tabus: tote Körper sowie ein kaum beachtetes Kriegsverbrechen, das geschätzt bis zu einer Million ukrainische Kinder betrifft. In ihrer neuesten Produktion „Four Seasons (Winter)“ lassen Khimei & Malashchuk eine kleine Drohne durch einen bürgerlich möblierten Raum schwirren, sie prallt gegen Wände oder das geschlossene Fenster. Solch Gerät ist fester Bestandteil apparativer Kriegsführung auf russischer wie ukrainischer Seite, als „First Person View“-Drohne mit zerstörerischer Sprengkraft.
Kateryna Lysovenko und Khimei & Malashchuk waren noch kürzlich gemeinsam vor internationalem Publikum während der Kunstbiennale in Venedig zu sehen, in einer Ausstellung des ukrainischen Mäzens Viktor Pinchuk. Die ukrainische Kunst demonstriert Präsenz.
Kateryna Lysovenko: „Animals“; Roman Khimei & Yarema Malashchuk: „In absentia“, Kunstverein Hannover, bis 30. März.
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