: Ronny statt Rolli
Mit einem Exoskelett sollen querschnittsgelähmte Menschen mehr Autonomie erlangen können. In der Community gibt es auch Vorbehalte gegen die Technik. Zu Besuch bei einem Forschungsprojekt
Von Marco Fründt (Text) und Aristidis Schnelzer (Fotos)
Zwischen Werkzeug, Lappen und Computern hängt Ronny an einem Stahlseil in einer Werkstatt der Technischen Universität Berlin. Er wiegt 85 Kilogramm und ist in etwa so groß wie der deutsche Durchschnittsmann. Ronnys korrekter Name ist „Rise-Exo-One“, er ist ein Exoskelett, eine Art Roboteranzug, der querschnittsgelähmten Menschen dabei helfen soll, wieder laufen zu können. Optisch erinnert er an einen großen schwarzen Reiserucksack mit silbrigen Beinen und runden, orangen Motoren an der Seite.
Jessica Dibady fährt mit ihrem Rollstuhl in den Raum. Sie ist Ronnys Pilotin, heute soll sie wieder mit ihm trainieren. So wie Dibady haben rund 140.000 Menschen in Deutschland eine Querschnittslähmung, eine durch die Schädigung des Rückenmarks ausgelöste Lähmung des Körpers unterhalb der betroffenen Stelle. Jährlich kommen rund 2.400 Personen hinzu, durch Unfälle oder Krankheit. Eine Querschnittslähmung bedeutet oft ein Leben im Rollstuhl.
Exoskelette können Betroffenen etwas mehr Selbstständigkeit geben – sagen Wissenschaftler:innen. Doch Exoskelette sind in der Community querschnittsgelähmter Menschen auch umstritten. Sie würden echter Inklusion eher im Weg stehen, lautet der Vorwurf.
Wie groß ist das Potenzial von Exoskeletten für Querschnittsgelähmte wirklich? Und was ist dran an der Kritik?
Seit fünf Jahren ist Jessica Dibady querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl. In einem Berliner Restaurant rutschte sie damals auf einer Treppe aus und fiel fünf Meter in die Tiefe. „Vor dem Unfall habe ich sehr viel Sport gemacht, vor allem Squash und Kickboxen.“ Sportlich aktiv ist Dibady auch jetzt noch. „Heute mache ich jede Woche Physiotherapie und ab und zu Boxen als Kardiotraining.“
Seit den 2010er Jahren wird auch für den medizinischen Bereich an Exoskeletten geforscht, Entwicklungen davor wurden vor allem im militärischen Bereich eingesetzt. Mittlerweile gibt es in Deutschland mehrere Anbieter, die die Stützanzüge kommerziell vertreiben. Seit 2018 werden Exoskelette potenziell auch von den Kassen übernommen. Etwa 100.000 Euro kosten die Hilfsmittel pro Stück.
Die Hersteller sehen in ihren Produkten großes Potenzial, doch noch ist ein autonomes Leben mit Exoskeletten und ohne Rollstuhl für Querschnittsgelähmte nicht möglich. Teams wie das von der Forschungsgruppe Rise (Research and innovation in student exoskeleton development) an der TU Berlin, die Entwickler:innen von Ronny, wollen das ändern.
Für Dibady ist die Arbeit mit dem Exoskelett inzwischen Routine, über mehrere Monate hat sie zweimal die Woche mit Rise trainiert. Zusammen mit den Entwickler:innen hat sie Ronny und sich dabei auf den sogenannten Cybathlon vorbereitet, einen Wettbewerb an einer Hochschule in Zürich, bei dem mehr als 100 Teams mit ihren assistiven Entwicklungen antraten. Dibady musste Alltagsaufgaben erledigen, etwa geradeaus oder durch eine Tür gehen.
Als das Gerüst in Berlin an ihren Körper angelegt wird, richtet sie sich mit einem Surren auf. In ihren Händen hält sie jeweils eine Gehhilfe, über einen Controller an der Rechten steuert sie die Bewegungen des Exoskeletts. Dibady hat auch ein leichteres Exoskelett eines anderen Herstellers zu Hause. „Das ist wegen seiner geringeren Größe einfacher im Umgang, ich brauche keine zusätzliche Unterstützung.“ Im Vergleich zu kommerziell vertriebenen, oft leichteren Exoskeletten hat Ronny ein größeres Bewegungsspektrum, weil er mehr Gelenkmotoren hat.
Der Controller piept bei jedem Schritt, den Dibady mit dem Exoskelett macht. Vor der Tür zur Werkstatt dreht sie sich mit etwas Hilfe um. Besonders stolz sind die Rise-Entwickler:innen auf die seitlichen Schritte. Dafür lässt Dibady Ronny erst ihr Bein anziehen und dann seitlich abstrecken. Zwei Teammitglieder haben durchgehend eine Hand an Ronnys Rückenplatte. Sicherheitshalber.
Die mehrheitlich studentische Gruppe Rise hat sich 2022 gegründet. „Nennenswerte Vorkenntnisse zum Thema Exoskelette hatte niemand“, erzählt Projektleiter Lukas Schneidewind. Die Gruppe ist aus der Initiative Sozial engagierte Ingenieur:innen (SEI) hervorgegangen, die Schneidewind noch als Maschinenbaustudent leitete. Ziel war es, Hilfsmittel für Menschen mit Beeinträchtigungen zu entwickeln.
Das große Ziel von Rise: ein Exoskelett, dass sich irgendwann selbst ausbalancieren kann. „Wir haben das System so gerüstet, dass wir es sukzessive auf ein gleichgewichtsregelndes System upgraden können. Die Innovation steckt bei uns also in dem Potenzial und nicht dem, was es gerade schon kann“, sagt Lukas Schneidewind. Kommerzielle Ziele verfolgen die Entwickler:innen von Rise nicht, Ronny ist lediglich als Forschungs- und Innovationsplattform gedacht.
Für Endnutzer:innen ergeben sich aus Forschungsprojekten wie dem an der TU Berlin normalerweise höchstens langfristig Produkte, die auch auf dem Markt verfügbar sind. „Die meisten potenziellen Innovationen bleiben im Ideen-, Bastel- oder Prototypenstadium stecken“, sagt Irmhild Rogalla, Leiterin des Instituts für Digitale Teilhabe der Hochschule Bremen, die selbst gehörlos ist. Das sei auch bei Exoskeletten so. Wenn sie es über dieses Stadium hinaus schaffen, stehen die Technologien selten einer breiteren Kund:innenschaft zur Verfügung. „Wenn, dann meist für den eigenen Bedarf des Innovators, selten der Innovatorin“, sagt Rogalla.
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Exoskelette sind in der Community umstritten. Sie bedienten vor allem die Vorstellung Nicht-Behinderter, „Gelähmte stehen auf und können wieder laufen“, sagt Rogalla. „Das verleitet sie zu der Ansicht, dass Behinderungen durch die assistive Technik ja ausgeglichen werden und jede weitere Forderung deswegen nur eine individuelle Macke ist.“ Schneidewind kennt die Vorbehalte. „Wir hatten tatsächlich Schwierigkeiten, Pilotinnen zu finden“, erzählt er.
Trotz der Kritik bedeutet Jessica Dibady die Arbeit an Exoskeletten viel. „Es macht mich froh zu sehen, dass junge Leute über diesen Bereich nachdenken.“ Nach einer halben Stunde ist ihr Training mit Exoskelett Ronny geschafft. Dibady ist klar, dass Exoskelette nicht der Schlüssel zur Inklusion sind. Im Rollstuhl stößt sie in ihrem Alltag auf viele Hürden. „Noch immer sind viele Bars oder Restaurants nicht barrierefrei.“ Informationen zur Barrierefreiheit bei Kartendiensten seien zumindest ein erster Schritt zu mehr Zugänglichkeit.
Woanders als in Berlin will Dibady trotzdem nicht leben. „Ich komme aus Paris, die Zugänglichkeit ist hier viel besser.“ Natürlich gebe es auch in Berlin Gegenden, die herausfordernd seien. „Aber fast jede Bahnstation hat einen Aufzug, anders als in Paris.“
Die Arbeit an und mit Ronny ist nun vorerst vorbei. Bei den Entwickler:innen laufen bereits die Planungen für Rise-Exo-Two. Sollte es soweit sein, wäre Jessica Dibady als Testerin sofort wieder dabei, sagt sie: „Ich finde Arbeit wie die von Rise sehr ermutigend. Ich bin froh über die Möglichkeit, ein Teil vom Team zu sein.“
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