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Umstrittene LiteraturnobelpreisträgerinDer Quell ihrer Brillanz

Nach den Missbrauchsenthüllungen ihrer Tochter fragt sich: Muss man die Werke der kanadischen Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro neu lesen?

Erst im Tod konnte sich Alice Munro aus der toxischen Verschlingung mit ihrem Partner lösen Foto: Andrew Testa/eyevine/laif

Es ist beinahe schon eine Binsenweisheit, dass das Werk vom Autor zu trennen ist. Rückschlüsse von der Biografie auf den Autor trivialisierten die Literatur, predigte einst Michel Foucault, sie seien deshalb irrelevant. Doch im Leben lassen sich solche theoretischen Grenzziehungen meist nur schwer aufrechterhalten.

So taucht verlässlich jedes Mal, wenn ein Skandal um einen Künstler an die Öffentlichkeit gelangt, die Frage auf, ob man sich das Werk noch zu Gemüte führen darf. Darf man noch Filme von Woody Allen oder Kevin Spacey sehen? Darf man noch Bücher von Junot Díaz lesen, darf man noch Michael Jackson hören, oder, in jüngerer Zeit, P. Diddy und Jay-Z?

Seit dem vergangenen Sommer beschäftigt diese Frage auch die kanadische Nation, wenn von Alice Munro gesprochen wird, der Literatur-Nobelpreisträgerin, deren Kopf eine Briefmarke ziert und die vom zurückgetretenen Premierminister Trudeau als nationale Ikone bezeichnet wurde. Literaturprofessoren ringen damit, wie mit ihrem unzweifelhaft herausragenden Werk umzugehen ist. Buchhandlungen wissen nicht, ob und wohin sie Alice Munros Bücher in die Regale stellen sollen. Und Kollegen sorgen sich darum, welches Licht die Affäre um Munro auf die gesamte kanadische Literatur wirft.

Ohne das Familiendrama nicht zu verstehen

Ausgelöst wurde die nationale Schockwelle durch einen Aufsatz von Munros Tochter Andrea Robin ­Skinner im Toronto Star, in dem sie offenlegte, wie sie von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde und wie ihre Mutter sie nicht nur nicht beschützt, sondern bei der jahrzehntelangen Vertuschung der Vorgänge mitgewirkt hat. Nun haben sowohl die New York Times als auch der New Yorker in investigativen Stücken von epischer Länge das Familiendrama, das sich über 50 Jahre hinzog, im Detail ausrecherchiert.

Einig waren sich die Autoren dabei vor allem in einem: Man kann, ja man sollte sogar unbedingt weiterhin Alice Munro lesen. Gleichzeitig bestehe ein unbedingter Zusammenhang von Autorin und Werk. Das Werk der Alice Munro ist nicht nur ohne das Familiendrama nicht zu verstehen. In vielerlei Hinsicht ist das Werk Teil des Familiendramas.

Im Oktober 1993 erschien im New Yorker eine Kurzgeschichte von Alice Munro mit dem Titel „Vandals“. Die Hauptfigur Bea, eine geschiedene Frau mittleren Alters, die klare autobiografische Züge trägt, verfällt einem Mann namens Ladner, einem charismatischen Armeeveteranen. Die beiden ziehen auf ein entlegenes Landgut, zu dem ansonsten nur zwei vernachlässigte Kinder aus der Nachbarschaft Zugang haben. Nach und nach erfährt Bea, dass Ladner eines der Kinder, Liza, seit Jahren sexuell missbraucht. Bea fühlt sich tief in den Schmerz des Kindes ein, doch sie ist unfähig, ­Ladner zu konfrontieren oder ihn zu verlassen. Am Ende zerstört Liza in einem Akt des Zorns und der Rache das Haus des Paares.

Kurz zuvor, im Jahr 1992, hatte Andrea Robin Skinner, die mittlerweile 25 Jahre alt war und an schweren psychosomatischen Symptomen wie Migräne, Schlaflosigkeit und Bulimie litt, endlich den Mut gefasst, mit ihrer Mutter darüber zu reden, was in ihrer eigenen Familie vor sich gegangen war. Seit sie neun Jahre alt war, wurde Andrea Skinner von Alice Munros zweitem Mann, einem Weltkriegsveteranen namens Gerald Fremlin, sexuell missbraucht. Zu mehreren Gelegenheiten hatte Fremlin das Mädchen ganz unumwunden vergewaltigt.

Mitgefühl mit der Tochter konnte sie nur in ihrer Kunst zeigen

Andrea Skinner hatte den Missbrauch bislang aus den gleichen Gründen für sich behalten, aus denen die meisten Missbrauchsbetroffenen stillhatten. Sie trug Scham- und Schuldgefühle mit sich, und sie hatte Angst davor, die Familie zu zerstören. Als ihre Mutter ihr von einem Roman erzählte, in dem eine junge Frau nach ihrem sexuellen Missbrauch Selbstmord begeht, schöpfte Andrea Skinner Hoffnung, auf Mitgefühl zu stoßen.

Doch diese Hoffnung wurde enttäuscht. Alice Munro verließ zwar vorübergehend Fremlin. Andrea Skinner besuchte ihre Mutter, war von deren Reaktion jedoch enttäuscht. Es sei ihrer Mutter nur um sie selbst gegangen und um ihr Gefühl, betrogen worden zu sein, schrieb sie in ihrem Aufsatz im Toronto Star. Fremlin hatte in der Zwischenzeit die Anschuldigungen abgetippt und mit ausführlichen Randkommentaren versehen. Der Unterton war, dass Andrea, wie Nabokovs Romanfigur Lolita, die Schuld trage, weil sie ihn „verführt“ habe.

Nach kurzer Zeit zog Alice Munro zu Fremlin zurück. Der Kontakt zwischen ihr und ihrer Tochter brach bis zu ­Munros Tod ab. Welches Mitgefühl auch immer Munro für ihre Tochter verspürt haben mag, sie konnte es nur in ihrer Kunst ausdrücken. Im wahren Leben war sie bereit, für ihren zweiten Mann die Beziehung zu ihrer Tochter aufs Spiel zu setzen.

Literarische Klarheit

„Vandals“ ist nicht das einzige Werk, in dem Munro eine Klarheit beweist, die sie so im wirklichen Leben nie an den Tag legen konnte. „Labor Day ­Dinner“ aus dem Jahr 1981 handelt von einer weiteren geschiedenen Frau, Roberta, die mit einem neuen Lebensgefährten zusammenlebt. Roberta lädt zu einem Feiertag ihre Töchter ein, die schockiert davon sind, wie sich ihre Mutter in der Beziehung zu dem neuen Mann verändert hat. „Er möchte sie und uns alle versklaven und sie vollführt einen ständigen Drahteilakt, um ihn nicht zu erzürnen.“

In der Geschichte „Dulse“ besucht die weibliche Hauptfigur eine Therapeutin, um ihre Beziehung zu einem Mann namens Duncan zu diskutieren. Sie weiß, wie groß die Kompromisse sind, die sie eingeht, um mit diesem Mann zusammenzuleben und gesteht zugleich, dass sie nur glücklich sein kann, wenn sie ihn zufriedenstellt.

Man kann diese Geschichten, wie jedes Kunstwerk, als unabhängige Stücke Literatur lesen. Jahrzehntelang wurden sie auch so behandelt, solange Alice Munro in der Öffentlichkeit den Schein eines intakten Privatlebens aufrechterhielt. Nach den Enthüllungen ihrer Tochter ist es freilich schwer geworden, sie vom Leben losgelöst zu sehen.

Munro wollte diese Trennung unter allen Umständen aufrechterhalten. Als im Jahr 2005 der Literaturwissenschaftler Robert Thacker eine Biografie über sie schrieb, baten alle drei Töchter der Schriftstellerin ihn inständig, den Missbrauch durch den Mann, mit dem Munro noch immer zusammenlebte, doch bitte mit aufzunehmen. Als er sich mit dem Kommentar weigerte, das sei „nicht die Art von Buch“, das er schreiben wolle, reagierte Andrea Skinner mit einer zornigen Mail, in der sie Unverständnis dafür zeigte, wie er „einen solchen zentralen Aspekt von Munros Leben aussparen“ könne. Munro selbst sagte dazu: „Das wäre dann das Einzige, worüber die Leute reden. Ich habe lange dafür gearbeitet, die zu sein, die ich bin.“

Kanadische Neigung zur Verdrängung

So drang der Missbrauch erst 19 Jahre später ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit. Dabei war die Information für jeden, der es wissen wollte, bereits seit 2004 zugänglich. Nachdem sie wieder einmal einen Zeitschriftenartikel über das „charmante Paar“ Munro/Fremlin gelesen hatte, ging Andrea Skinner mit den kommentierten Briefen Fremlins zur Polizei. Er gestand den Missbrauch und wurde verurteilt. Andrea Skinner wollte nicht, dass er ins Gefängnis geht, stattdessen zahlte er eine beträchtliche Summe an eine Einrichtung, die Opfer sexuellen Missbrauchs betreut.

Doch wie der Munro-Biograf wollte niemand etwas davon wissen, nachdem sich Andrea Skinner nach langer Therapie dazu entschlossen hatte, über ihren Missbrauch zu sprechen. Erst nach Alice Munros Tod 2024 nahm sich der Toronto Star des Themas an und übernahm einen Essay von Andrea Skinner, der vorher auf der Website des Therapiezentrums Gatehouse erschienen war.

Der Journalist und Autor Stephen Marche führt das Schweigen auf eine spezifisch kanadische Neigung zurück, Ärger zu vermeiden und Dinge herunterzuspielen. Dazu gehört etwa die Epidemie des Massenmords an indigenen Frauen, die bis vor Kurzem gesellschaftlich kaum thematisiert und skandalisiert wurde.

Was Alice Munro betrifft, so beschleicht Marche der dringende Verdacht, dass die selbstquälerische Unterdrückung des Unaussprechlichen nicht zuletzt ein Quell für ihre Produktivität und ihre Brillanz war. Für ihn sind Kunst und Leben in diesem Fall untrennbar.

Für Andrea Robin Skinner, die sich nie mit ihrer Mutter versöhnte, bleibt zumindest ein kleiner Trost. In ihren letzten Lebensmonaten, schon von schwerer Demenz gezeichnet, sagte Alice Munro, dass sie unter keinen Umständen „neben diesem Pädophilen beerdigt“ werden wolle. Erst im Tod konnte sie sich aus der toxischen Verschlingung mit ihrem Partner lösen.

Ihre schlimmste Befürchtung wurde dennoch nicht wahr. Die Menschen wenden sich nicht von Alice Munros Werk ab. Es wird begierig neu gelesen. Wenn auch nun mit einem deutlich veränderten Blick.

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