Michael Brake Geschmackssache: Süß mit einer Note von süß
Seit etlichen Jahren steht bei mir im Regal der posthum erschienene Roman „Der bleiche König“ von David Foster Wallace. Ungelesen. Die Kombination fragmenthaft/unvollendet/über 600 eng bedruckte Seiten hielt mich bisher davon ab. Geschafft habe ich dafür die 87 Taschenbuchseiten von Wallace’ Kurzgeschichte „Mister Squishy“, und die hallen bis heute nach. Die Haupthandlung beschreibt extrem detailliert eine Fokusgruppenuntersuchung für einen neuen Schokoriegel mit dem marketingtechnisch riskanten Namen „Felonies!“ (Kapitalverbrechen). In Opposition zur „putzigen Namensgebung herkömmlicher Pausenriegel mit ihren zahlreichen Ns und Doppel-Os“ soll dieser vor allem 18- bis 39-jährige Männer ansprechen.
Tatsächlich stelle ich mir Süßwarenmarketing ziemlich kniffelig vor. Die Reihe der Grundzutaten ist begrenzt (Schokolade, Biskuit, Nusscreme, Krokant, Karamell und wenige weitere), und wenngleich man sie auf überraschend viele Arten kombinieren kann, das Ergebnis ist geschmacklich eben fast immer: süß mit einer Note von süß. Das kann man schwer als Alleinstellungsmerkmal verkaufen, es sei denn, man packt noch die ausgedachte Piemont-Kirsche oder eine Mischung aus Pistaziencreme und Kadayif mit rein.
Irgendwann fiel mir dann – vielleicht inspiriert von „Mister Squishy“ – auf, dass in meiner Jugend sehr viele Hersteller versuchten, ihr Produkt mit einem bestimmten Verwendungsmoment zu verdrahten. Die Süßware für die Vormittagspause ist Knoppers („morgens halb zehn in Deutschland“). Die für den Abend trägt’s gleich im Namen: After Eight. Will man sich bedanken, verschenkt man Merci. Zu Einladungen von Freunden nimmt man Ferrero Küsschen mit. Wenn die Familie gemeinsam spielt, bringt Mutti irgendwann Toffifee ins Spiel. Und falls man feststeckt und aus Zuckermangel hangry zu werden droht, ist – „Wenn’s mal wieder länger dauert“ – Snickers der Retter.
Ich kann leider nicht sagen, ob das immer noch so läuft, weil mich nur noch wenig Süßwarenwerbung erreicht. Aber dafür war ich äußerst amüsiert, als mir vergangene Woche eine Mini-Pralinenpackung von Lindt in die Hände fiel. Drin waren Dinge wie Nuss-Becherli, Nougat-Waffelherz, Vollmilch mit Krokant, außen drauf stand: „Einfach mal so“.
Einfach mal so. Alles kann, nichts muss. Schokolade ohne Verwendungszusammenhang. Wenn die für viel Agenturhonorar erdachten Verpackungsbotschaften noch wolkiger sind als Wahlplakate, auf denen einfach nur „Zuversicht“ steht – dann ist wirklich alles egal. Dann sind wir komplett frei.
Michael Brake blickt jeden Monat auf neue und alte Trends in Restaurants, Küchen und Supermarktregalen.
Vielleicht sollte ich endlich mal anfangen, „Der bleiche König“ zu lesen.
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