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berliner szenenDie Augenfarbe als Marke

Als wäre sie ein Nikolausgeschenk, lege ich die immer dicker werdende Mappe mit ärztlichen Unterlagen in meine Dr. Martens neben die Liege. Ich warte auf meine Orthopädin und befürchte langsam, mich verhört zu haben. Ist es wirklich Dr. H., die mir die Fäden der Knie-OP ziehen wird? Dann taucht sie auf und begrüßt mich enthusiastisch. Ich bin erleichtert, dass ich nicht nach Charlottenburg zu meinem Krankenhaus fahren muss – doch es sind keine Fäden, erklärt sie mir und ich verstehe plötzlich, warum sie einen Klammerentferner in der Hand trägt. Die Wunden wurden getackert. Ich traue mich auf mein Bein zu schauen und komme mir vor wie eine Figur aus einem Tim-Burton-Film. Während sie die Klammern entfernt, fühle ich mich eher wie ein Blatt Papier. Sie schaut mich mit ihren stahlblauen Augen an und lacht. „Ja ja, das ist normal.“ Dass etwas normal sei, sagt sie oft – was mich beruhigt und nervt zugleich.

Manchmal, vermute ich, verwechselt sie mich mit einer anderen Patientin. Sie spricht Englisch mit mir und ich muss sie daran erinnern, dass mein Problem die Kreuzbänder sind, nicht der Meniskus. „Ja ja, natürlich“, antwortet sie irritiert.

Die Farbe von Dr. H.s Augen scheint eine Marke ihrer Praxis zu sein. Alle Rezeptio­nistinnen haben diese tiefblauen Augen, die zu ihren Kitteln passen und wie Steine am Flussboden glänzen. Besonders freundlich sind sie nicht, aber freundlicher als am Telefon. Am meisten gefällt mir an der Praxis, dass sie sich in einem Altbau mit Holzfußböden, hohen Fenstern und Stuckdecken befindet. Deshalb nehme ich die Fahrt nach Alt-Tempelhof auf mich. Und auch wegen Dr. H. Ich weiß, dass sie Profi­sportlerin war und es ernst meint, wenn ich über meine Einschränkungen heule und sie nickend „Ich verstehe Sie“ sagt.

Luciana Ferrando

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