: Berührende Kombinationen
Von Schuberts Fünfter bis türkischen Pop, von jiddischen Liedern bis zu Stories aus Südafrika: Beim Festival Schall&Rausch präsentiert die Komische Oper neuestes Musiktheater in Neukölln
Von Katja Kollmann
James Gaffigans Hände gibt es im ehemaligen Sudhaus der Kindl-Brauerei in Übergröße. Schwerelos gleiten sie über die Partitur von Franz Schuberts fünfter Sinfonie. Der Generalmusikdirektor der Komischen Oper ist zum Greifen nah, drei Meter Luftlinie vor mir lässt er seine Arme Schuberts beim Dirigat Musik ertanzen. Eine Kamera filmt Gaffigans Orchesterpartitur und wirft sie großformatig an die Wand. Immer wieder finden seine Hände beim Dirigieren ins Bild und sein Hinterkopf schraubt sich von unten über die Partitur. Lässt man sich auf diese Verbindung von stehendem und bewegtem Bild ein, beide unlöslich mit der akustischen Spur im Raum verbunden, entsteht ein berührender Dreiklang voller Poesie.
James Gaffigan probt den zweiten Satz von Schuberts Fünfter das erste Mal mit seinen MusikerInnen. Er weist auf einige Besonderheiten der Partitur hin, erzählt, wie viel Freiheit Schubert DirigentInnen und MusikerInnen lässt, und fragt dann ins Publikum, ob jemand den zweiten Satz dirigieren möchte. Denn wir sind bei „Everybody now!“, dem Schall&Rausch Playroom. Eine Dame geht wirklich ans Pult, hebt die Hände und los geht’s! Ihr Dirigat erinnert visuell an den Segen in der Kirche. Musikalisch schleppt das Ganze allerdings ein wenig. Das macht aber nix!
Nach kurzer, 15-minütiger Pause geht es im Schall&Rausch Playroom weiter: Die niederländische Performerin Loulou Hameleers formt alle zu einem gewaltigen Chor, der nach einer guten halben Stunde mit Inbrust Menstruations-positiv „Blut ist gut“ in den Raum röhrt. Dann vereint der südafrikanische Komponist, Performer und Choreograf Nhlanhla Mahlangu alle zu einem entspannten Bewegungs- und Lautkörper. In einer berührenden Kombination aus Storytelling und der gleichzeitigen Versinnlichung der erzählten Inhalte rekonstruiert er die Atmosphäre auf den Straßen von Johannesburg und die katastrophalen Arbeitsbedingungen in den südafrikanischen Diamant-Minen. Der Schall&Rausch Playroom ist das neue partizipative Format von Schall&Rausch, dem Festival für brandneues Musiktheater, das die Komische Oper zum dritten Mal in Neukölln auf die Beine stellt. Der SchwuZ Queer Club ist als Veranstaltungsort auch wieder mit dabei. Gerade hier gelingt der Komischen Oper eine Begegnung von unterschiedlichen Milieus der Stadtgesellschaft. So hält sich eine ältere elegante Dame an Ehemann und Gehstock fest, bevor sie langsam die Treppe zum Club herunterkommt und bei den freundlichen, fantasievoll geschminkten Garderobieren jeglichen Genders ihren Mantel abgibt. Für das Publikum des Kammerkonzerts „Yiddish Cabaret“ werden im entkernten Lagerraum der früheren Kindl-Brauerei extra Stühle aufgestellt. Die Sopranistin Alma Sadé hat sich vier StreicherkollegInnen aus dem Orchester der Komischen Oper geholt. In einer guten Stunde wandert sie mit ihnen durch den jüdisch inspirierten Musikkosmos. Der erste Halt ist bei Leonid Desjatnikow. Sadé singt fünf von ihm neu arrangierte jiddische Lieder aus der polnischen Kabarett-Szene der Zwischenkriegszeit. Die Sängerin lässt ihre Stimme zart und kraftvoll zugleich klingen und wechselt immer wieder adhoc zum Sprechgesang. Gemeinsam mit Geige, Viola, Violoncello und Kontrabass erzeugt sie die federleichte Melancholie mit eingewebtem leisen Humor, die diesen Liedern eingeschrieben ist. Ein veritabler Coup ist, dass Alma Sadé bekannte Hits von jüdischen Stars wie George Gershwin, Kurt Weill, Bob Dylan und Amy Winehouse ins Jiddische übersetzen ließ, und nun im SchwuZ performt. Es ist spannend und berührend zugleich, Lieder wie „Blowin'in the wind“ auf Jiddisch zu hören.
Am nächsten Abend begibt sich die belgische Violinistin und Komponistin Liesa van der Aa mit „Rich Niche“ auf einen musikalischen Parcours. Wenn sie sich mit ihren drei Kolleginnen augenzwinkernd über Selfcare und andere „Frauenthemen“ singend unterhält, ist sie musikalisch absolut unvorhersehbar: Minutenlang röhrt sie wie eine Souldiva, wechselt plötzlich zum Pop und landet am Schluss beim Techno.
Im Heimathafen Neukölln begegnen sich türkischer Pop und Barockoper. Eine ziemlich geniale Symbiose. Wie ein Komet bricht die türkische Popsängerin Gaye Su Akyol mit ihrem Empowerment-Musical „Consistent Fantasy is Reality“ in den Saalbau ein und lässt ihn visuell und musikalisch explodieren. Wer noch mehr Schall&Rausch möchte, kann unter der Woche ins Schiller-Theater zum Grönemeyer-Musical „Pferd frisst Hut“ und ab Freitag in „Gaia-24. Opera del mondo“ von Opera Aperta aus der Ukraine.
Schall&Rausch, an verschiedenen Orten in Neukölln, bis zum 16. Februar
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