Die Wahrheit: Seit 48 Millionen Jahren tot
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (211): Der Walvorfahre Indohyus ist so was von ausgestorben, dass ihn niemand mehr kennt.
![Indohyus und seine Transformation zum Meeressäuger Indohyus und seine Transformation zum Meeressäuger](https://taz.de/picture/7518416/14/37613674-1.jpeg)
Der Indohyus hat etwa die Größe von Waschbären und ähnelt am meisten dem Afrikanischen Hirschferkel, heißt es auf Wikipedia. Und dieses Tier wiederum ist etwas größer als sein asiatischer Verwandter, der Kantschil. Wenn man den nun anklickt, wird man zum Tragulus weitergeleitet, was eine Gattung von Paarhufern in der Familie der Hirschferkel ist. Was sie alle eint, ist, dass sie eben nicht viel größer als Waschbären sind und dass die Männchen statt Stirnwaffen ihre oberen Eckzähne zu Hauern verlängert haben.
Der Indohyus hat einige weitere Besonderheiten. Zum einen den verdickten Ohrknochen. Dieser ist laut Wikipedia „das wichtigste Merkmal, das für die direkte Abstammung der Wale vom Indohyus spricht“, denn dieses Merkmal findet sich ausschließlich bei Walen, Orcas und Delfinen (die zur Unterordnung „Cetacea“ zählen). Zum anderen hat er eine starke Verdickung der äußeren Knochenschichten. „Dieses Merkmal ist auch bei den heute lebenden Flusspferden zu finden, es erlaubt eine kräfteschonende, watende Fortbewegungsweise unter Wasser.“ Bei den Indohyus deutet es darauf hin, dass sie schon teilweise im Wasser gelebt haben. Aber was heißt „im Wasser leben“?
Mopsfidele Wolpertinger
Über die Afrikanischen Hirschferkel wird gesagt, dass sie sich bei Gefahr ins Wasser flüchten. „Sie halten sich dort allerdings nicht sehr lange auf, da sie keine guten Schwimmer sind.“ Vielleicht konnte der Indohyus besser schwimmen? Einigermaßen gesichert ist dagegen das Wissen, dass dieser Paarhufer, der auf dem indischen Subkontinent lebte, vor 48 Millionen Jahre ausgestorben ist. Es können also nicht jagdversessene englische Kolonialbeamte gewesen sein, die kamen sehr viel später – als sich die Wale schon lange aus Indohyus als nächsten Verwandten herausgemendelt hatten und wieder ganz zurück ins Meer gegangen waren, wo sie immer größer wurden und nicht nur wie die Flusspferde im Süßwasser herumwateten, sondern die Ozeane rund um den Globus durchpflügten. Alle Achtung, kann man da nur sagen, was aus dem kleinen Indohyus alles geworden ist.
Der Spiegel nannte ihn 2007 einen mopsfidelen „Schwimm-Hirsch“: „Er hatte etwa die Größe eines Fuchses, ähnelte jedoch in der Gestalt heutigen Hirschen.“ Das hört sich nach einer Art Wolpertinger an. Auf wissenschaft.de hat man ihn „tauchend in einem Fluss“ abgebildet. Er sieht dort aus wie eine Bisamratte mit langen Beinen. Indohyus lebte laut Spiegel „anders als bisher angenommen schon teilweise im Wasser, berichten die Forscher um Hans Thewissen von der Northeastern Ohio University in Rootstown“.
Weiter heißt es dort: „Schon seit Darwin sind sich Wissenschaftler einig, dass Wale von Landsäugern abstammen, die ins Wasser gingen. Oft wurde in diesem Zusammenhang ein fleischfressender Säuger vermutet, der seine Nahrung auf Meeresfische ausweitete.“ Bis Hans Thewissen aus Ohio ihn nun ausgedeutet hat: Es ist der kleine Indohyus. Das bestätigen dem Spiegel zufolge auch „Zahnanalysen des Fossils, die Ähnlichkeiten mit teilweise im Wasser lebenden Tieren zeigen“.
Versehentlicher Schädelbruch
Auf „Animals Around The Globe“ findet sich die Geschichte der Indohyusknochen – es ist eine Familiengeschichte: „Die Entdeckung begann 1971, als der indische Geologe A. Ranga Rao in den felsigen Gebieten Kaschmirs auf einige Fossilfragmente stieß. Diese Fragmente, bestehend aus Zähnen und einem Stück Kieferknochen, schienen damals unbedeutend. Jahrzehntelang blieben sie unbeachtet. Erst als Raos Witwe diese Fossilien dem Paläontologen Dr. Hans Thewissen schenkte, wurde ihre monumentale Bedeutung ans Licht gebracht. Im Jahr 2007 feierte Indohyus seinen großen Einstand in der wissenschaftlichen Gemeinschaft durch einen Artikel in ‚Nature‘ und revolutionierte unser Verständnis der Evolution der Wale.“
In Jason Roberts’ umfangreicher Studie über die „Erforschung der Natur“ am Beispiel von Georges-Louis de Buffon und Carl von Linné, „Die Entdeckung allen Lebens“ (2024), findet sich ein weiteres Detail: Die Überreste von Indohyus wurden zunächst einer Landtierart zugeordnet. „Erst als ein Paläontologe [Hans Thewissen?] versehentlich einen Indohyus-Schädel zerbrach, wurde die charakteristische Struktur der Innenohren entdeckt [wie ungeschickt!], die auf eine ganz andere Abstammung hindeutete.“
Für Roberts stellt sich dabei eine generelle Frage im Hinblick auf Fossilien: „Wann genau endet eine taxonomische Kategorie, und wann beginnt eine andere? Dieses Problem wurde als ‚Grenzparadoxon‘ bekannt und verdeutlicht eine grundlegende Unvereinbarkeit zwischen Evolution und konventioneller Taxonomie.“
Die weitgereisten Blogger von „Animals Around The Globe“ haben für ihren Bericht eine ganze Reihe von Indohyusbildern aufgetrieben, unter einem steht, dass er nicht nur Gemeinsamkeiten mit Walen und Flusspferden aufweist, sondern auch entfernt mit Schweinen und Schafen verwandt ist. Wegen seines dicken Gehörknöchelchens, das bisher nur bei Walen gefunden wurde und ihm das Hören unter Wasser erleichtert, kann man vermuten, „dass Indohyus viel Zeit im Wasser verbracht hat“. Er führte mithin einen „semiaquatischen Lebensstil“ – und „ebnete so den Weg für die vollständig aquatischen Wale“.
Gefährliche Deutungen
Als Grund für seinen „Lebensstil“ wird angegeben, dass Indohyus im Wasser weniger Feinde hatte. Die Entwicklung seiner Art endete trotzdem – im Eozän. Damals lebte im Wasser noch oder schon eine Frühform der Wale – „wandelnder Wal“ (Ambulocetus natans) genannt: Das etwa zehn Meter lange Säugetier hatte den Körper, die Schnauze und die Augen eines Krokodils, dazu jedoch bepelzte Füße mit Schwimmhäuten. Es kann sein, dass mit dem Aufkommen dieses furchterregenden wandelnden Wals das Ende des kleinen, eher harmlosen Indohyus gekommen war. Ach, wärst du doch an Land geblieben.
Aber auch dort, genauer am Wasserrand, lauerte ihm Ambulocetus auf. Dessen „einzigartige Mischung von Merkmalen positionierte ihn als wichtiges Bindeglied in der Entwicklung vom Land zum Meer“, heißt es bei„Animals Around The Globe“. Für die Autoren schlägt dennoch nicht der große wandelnde Wal, sondern der kleine Indohyus „eine Brücke zwischen Landsäugetieren und Meereswalen und bietet somit Einblicke in einen der dramatischsten Übergänge der Evolution“.
Bei diesen ganzen Fossilienausdeutereien gilt es jedoch zu beachten, was der Foucault-Assistent François Ewald 1986 in Berlin ausführte: „Es gibt immer zu viel Deutung und nie genug Fakten. Die Akte durch Deutung sind am gefährlichsten für die Freiheit.“
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