: Eine Funktion, die erfüllt werden muss
Philip Pettit verteidigt in seinem neuen Buch den Rechtsstaat mit funktionierender Gewaltenteilung. Ist seine Methode richtig gewählt?
Von Hanno Rehlinger
Donald Trump unterschreibt pausenlos Dekrete im Weißen Haus, in Europa ziehen rechtsradikale Parteien in die Parlamente, Israels Premierminister Netanjahu schafft in Israel nach und nach die Gewaltenteilung ab. Was macht Philip Pettit? Er schreibt eine Apologie des Rechtsstaats.
Der ursprünglich aus Irland kommende Philosoph ist im breiten Mainstream, aber auch bei linken Denkern stark rezipiert worden. Unter anderem, weil seine Theorie Freiheit von Handlungsmacht abhängig macht, nicht nur davon, dass alle einen in Ruhe lassen. Bekannt über philosophische Kreise hinaus wurde er vor allem durch seine enge Beziehung mit dem ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten José Zapatero, für dessen politische Reformen Pettit den philosophischen Rahmen lieferte.
Philip Pettit: „The State. On the Nature and Norms of the Modern Polity“. Princeton University Press, Princeton 2023, 376 Seiten, 39,95 Dollar
Im ersten Teil seines neuen Buches „The State“ versucht Pettit, den modernen Rechtsstaat zu verteidigen, ohne eine anspruchsvolle moralische Theorie zu bemühen. Dazu führt er die Leserin durch ein Gedankenexperiment. Seine These: Wir Menschen hätten unter allen möglichen Bedingungen immer so etwas wie einen Staat gegründet, um zu garantieren, dass niemand die anderen willkürlich dominieren kann. Diese Funktion – so Pettits Argument – kann der Staat am besten ausfüllen, wenn er ein Rechtsstaat mit funktionierender Gewaltenteilung ist. Man muss also keine bestimmten Werte teilen, um am europäisch geprägten Modell des Rechtsstaates festzuhalten. Es reicht, sich darauf zu besinnen, dass er eine Funktion erfüllt, die erfüllt werden muss.
Aus dieser Funktion lässt sich laut Pettit noch einiges anderes schließen. In der zweiten Hälfte seines Buches argumentiert er deshalb scharf gegen libertäre Positionen wie jene, die behauptet, dass jede staatliche Intervention zwangsläufig gegen „natürliche Rechte“ verstoße oder in einen idealen Markt eingreife. So überholt diese Überzeugungen für viele Europäer klingen, gehören sie in den USA doch vielerorts zum guten Ton.
„The State“, bereits 2023 erschienen, ist international stürmisch aufgenommen worden, in Deutschland wird eine Debatte um das Buch erst in jüngerer Zeit geführt. Pettit wird als Thomas Hobbes des 21. Jahrhunderts gefeiert. Dabei ist sein Buch im Unterschied zum „Leviathan“ gerade eines nicht: überraschend. Ihm scheint es nicht darum zu gehen, eine neue Perspektive zu eröffnen, sondern den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung zu verteidigen, in einer Zeit, in der sie unter Beschuss stehen. Aber ist seine Methode für dieses Ziel richtig gewählt?
Ein Gedankenexperiment dient dazu, vom tatsächlichen Verlauf der Geschichte zu abstrahieren, um ein teleologisches Bild zu malen. Wenn die Autoritäten an einem bestimmten Punkt von Pettits ahistorischem Gedankenexperiment „kaum eine andere Wahl haben“, als eine Grenzpolizei einzuführen, oder, an einem anderen, „sich gezwungen fühlen“ eine Armee aufzustellen, dann scheint es, als sei die Entstehung des Staates auch zu anderen Zeiten unausweichlich gewesen. Und zwar genauso, wie er uns seine hässliche Fratze heute entgegenstreckt: als wehrhafter Nationalstaat mit Gewaltmonopol, Grenzschutz und stehender Armee. Die Probleme, die zu diesen Entwicklungen führen, sind laut Pettit eben nicht kontextabhängig, sondern universell. Dass wir bei der Frage, was ein Problem ist, genauso viel mitzureden haben wie bei der Frage, was eine Lösung sein könnte, wird ausgeblendet.
Auf diese Weise verschwinden die Potenziale wie die Gefahren gemeinsamen Handelns aus dem Bild. Weder hätte es je anders sein können, noch kann es ernstlich anders werden, denkt man sich vielleicht beruhigt, wenn man Pettits Buch ins Regal schiebt – irgendwo zwischen Platon und Hobbes und weit weg von den Zeitungen des Tages. Vielleicht bräuchte es im Angesicht von Trump und Co stattdessen eine Theorie, die Alternativen sichtbar werden lässt – sowohl die, die wir uns wünschen, als auch die, vor denen wir uns fürchten. Eine Apologie droht allzu schnell zum Abgesang zu werden.
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