: Lebendig begraben und einfach nicht mehr da
In Belarus sitzen rund 1.200 politische Gefangene ein. Sollte mit dem Regime verhandelt werden?
Von Gaby Coldewey
„Maria hatte fast zwei Jahre lang keinen Kontakt zur Außenwelt. Im November konnte unser Vater sie in der Strafkolonie Homel besuchen. Er hatte sie seit Dezember 2022 nicht mehr gesehen.“ Wenn Tatjana Chomitsch von ihrer Schwester Maria Kolesnikowa erzählt, wird ihr Gesicht ganz starr. Kolesnikowa ist eine der bekanntesten belarussischen Oppositionellen. Nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen im August 2020 wurde sie festgenommen und ein Jahr später zu 11 Jahren Haft verurteilt. Die Vorwürfe sind konstruiert: „Extremismus“, „versuchte Machtergreifung“ und „Aufrufen zu staatsgefährdenden Handlungen“.
Seitdem ist sie in Haft. Im November 2022 wurde sie am Magen notoperiert, kurz darauf durfte der Vater noch einmal für zehn Minuten zu ihr. Im Februar 2023 erhielt die Familie die letzte Postkarte von ihr. Seitdem war Maria Kolesnikowa von der Außenwelt abgeschnitten, ohne Kontakt zu Familie oder Anwälten, ohne Erlaubnis, Briefe oder gar Zeitungen in die Haftanstalt zu bekommen. Es hieß, sie habe große gesundheitliche Probleme, sei auf 45 Kilo abgemagert und nicht mehr arbeitsfähig. Lange war nicht klar, ob sie überhaupt noch lebte.
Deswegen war das Treffen mit ihrem Vater eine Sensation. Wie es überhaupt dazu gekommen war, zeigt, wie verfahren und absurd die Situation in Belarus ist. In einem BBC-Interview hatte der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko erwähnt, dass schriftliche Gesuche für Besuche bei Gefangenen eingereicht werden könnten. „Das war offenbar ein Zeichen für uns“, sagt Tatjana Chomitsch. Dem Antrag ihres Vaters sei dann stattgegeben worden.
„Bei seinem anderthalbstündigen Besuch im Dezember hat Maria alle Angaben über ihre Gesundheit bestätigt, aber auch von Herzproblemen und Bluthochdruck berichtet. Davon hatten wir bis dahin nicht gewusst“, sagt Tatjana Chomitsch. Maria sei in der Haft völlig isoliert, sie dürfe weder Post noch Zeitungen bekommen. Und auch nicht mehr arbeiten. „Sie wollen in der Strafkolonie dadurch den Eindruck erwecken, als sei sie gar nicht mehr da“, so Chomitsch. Vor dem Treffen mit ihrem Vater, von dem es auch ein offizielles Foto gibt, sei sie in verschiedenen medizinischen Behandlungen gewesen, um nicht ganz so krank auszusehen.
In Belarus gibt es offiziell 1.250 politische Gefangene. Menschenrechtler und die Exilregierung der Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja vermuten allerdings, dass die wirkliche Zahl höher liegen dürfte. Aus Angst machen viele Menschen nicht öffentlich, wenn Angehörige festgenommen wurden. Verhaftet wurden zuletzt auch Belarussen, die im Ausland leben und über die Weihnachtsfeiertage nach Belarus eingereist waren.
Wahl In Belarus finden am Sonntag Präsidentenwahlen statt. Der Sieger steht bereits fest: Amtsinhaber Alexander Lukaschenko, der seit 1994 an der Macht ist. Die vier Mitbewerber*innen sind Staffage, Wahlbeobachter*innen der OSZE nicht eingeladen.
Proteste Rund um die gefälschten Wahlen im August 2020 waren die Belaruss*innen wochenlang auf die Straße gegangen. Dieses Szenario dürfte sich nicht wiederholen. Das Regime hat in den vergangenen Wochen die Repressionen gegen Kritiker*innen massiv verschärft
Seit 2020 gab es mindestens sieben Todesfälle in Haftanstalten. Der letzte von ihnen war der 22-jährige Dmitri Schletgauer. Er war gerade Vater geworden, als er zu 12 Jahren Haft verurteilt worden war. Kurz nach seiner Inhaftierung starb er im letzten Oktober in der Strafkolonie Mahiljou unter ungeklärten Umständen. Noch bemühen sich belarussische Organisationen aus dem Exil um Hilfe für die Inhaftieren. Doch da sie in Belarus verboten sind, machen sich selbst Angehörige, die dort um Hilfe nachsuchen, schon strafbar. Von außen betrachtet scheint die Situation ausweglos. Doch Tatjana Chomitsch sagt: „Lukaschenko gibt Zeichen, dass er bereit sei, politische Gefangene freizulassen.“ So habe er seit Herbst 2024 rund 250 Häftlinge begnadigt. Vor allem ältere Menschen, Schwerkranke, Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Aber zum Beispiel auch Eltern mit mehreren Kindern.
Der Westen hat im Laufe der letzten vier Jahre zahlreiche Sanktionen gegen Belarus verhängt. Das Land ist politisch isoliert. Seit den gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 gibt es zum Beispiel Flugverbindungen nur noch eingeschränkt über Drittländer, belarussische Maschinen dürfen nicht mehr in der EU landen. Mindestens 500.000 Menschen haben das Land seitdem verlassen. Knapp die Hälfte davon ist in westliche Länder gegangen, die anderen nach Russland. Für ein kleines Land wie Belarus mit derzeit neun Millionen Einwohnern wächst so das demografische Problem. Schon jetzt fehlen vielerorts Arbeitskräfte. Und auch soziale Probleme nehmen merklich zu. Die Zahl von Fällen häuslicher Gewalt hat sich drastisch erhöht. Viele der NGOs, die früher im sozialen Bereich tätig waren, zum Teil mit westlichen Spendengeldern, sind mittlerweile verboten. Einen staatlichen Ersatz gibt es nicht.
Beobachter fordern, man solle aus humanitären Gründen mit Belarus in einen Dialog treten, um eine Freilassung der politischen Gefangenen zu erreichen. Im Gegenzug könnten die Sanktionen schrittweise gelockert werden. „Ich glaube daran, dass es eine Lösung geben kann“, sagt Tatjana Chomitsch. Und lächelt zum ersten Mal während des Gesprächs.
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