: Etüden in Form und Farbe
Mary Heilmann hat in ihren wilden Jahren das Klischee vom Künstler-Bohemien ausgelebt. Ihre abstrakte Malerei ist so schlicht, dass sie wieder komplex wird, wie eine Turiner Ausstellung zeigt
Von Bernhard Schulz
Eine „einfache Komplexität“ attestiert der Einführungstext der Galleria Civica d’Arte Moderna der Kunst von Mary Heilmann. Was wie ein unfreiwilliger Selbstwiderspruch aussieht, ist dennoch nicht verkehrt. Denn die Gemälde der 85-jährigen US-Amerikanerin sind je für sich einfach, schlichte Etüden in Form und Farbe, in ihrer Gesamtheit jedoch ein mehrschichtiges Unterfangen.
Mary Heilmann kam 1940 in San Francisco zur Welt und verbrachte Kindheit und Jugend in Kalifornien, ehe sie 1968 nach New York übersiedelte. Mit dem Umzug wechselte sie von der Bildhauerei zur Malerei, mit der ihre eigentliche Künstlerkarriere begann. Die Liste ihrer Ausstellungen ist beeindruckend.
Im Haus der Zürcher Stiftung für konstruktive, konkrete und konzeptuelle Kunst hatte Mary Heilmann 1997 ihre erste europäische Museumsausstellung, nachdem Arbeiten von ihr immerhin schon 1980 beim Düsseldorfer Galeristen Hans Strelow zu sehen waren. Es dauerte, bis Heilmann als Künstlerin ernst genommen wurde, wohl auch angesichts ihrer wilden Jahre, in denen sie geradezu das Klischee vom Künstler-Bohemien ausgelebt hatte, eine endlose Party mit Drogenkonsum, aber auch harten Einschnitten wie dem Krebstod des befreundeten Gordon Matta-Clark. Darüber gibt ein autobiografischer Text im jetzigen Katalog Auskunft. Aber da steht auch der Satz, sie habe mit den 1990er Jahren ihr „Selbstbild als Außenseiter, als Outlaw, Heilige, Märtyrerin“ aufgeben müssen und sich als die Person zu sehen begonnen, die sie geworden war, ganz Mittelklasse mit Haus und Auto.
Mary Heilmanns Kunst ist von diesen Häutungen unberührt, und die in Turin gezeigten Arbeiten, die zeitlich von 1980 bis in die Gegenwart reichen, stehen nicht für irgend etwas, sie bezeugen oder verneinen nichts, sondern sind, was die Zürcher Stiftung im Titel führt: konkret. Sie sind Gemälde, aber sie sind zugleich Objekte.
Die Kuratorin, Chiara Bertola, unterstreicht diesen Doppelcharakter durch subtile Arrangements verschieden großer, verschieden farbiger Leinwände. Sie selbst spricht von „Spannungen und Rhythmen zwischen den Arbeiten“, die die Verteilung der Bilder erzeuge. Ins Auge springt die Vielfalt der Formen, es können farbige Streifen sein, Rechtecke auf weißem Grund, organische Rundungen, es kann „Hard Edge“ sein, „Shaped Canvas“, „Colourfield Painting“ oder fast so etwas wie die „Drippings“ der New Yorker Nachkriegs-Expressionisten. Mary Heilmann hat die Kunst der vergangenen Jahrzehnte aufmerksam verfolgt und in sich aufgenommen, ohne jemals in ausgetretene Pfade einzuschwenken. Das Moment des Spielerischen, des Ausprobierens ohne die Verbissenheit, etwas erreichen oder gar nachahmen zu wollen, ist allen Arbeiten eigen.
Wenn man sie als „abstrakt“ kennzeichnet, dann deshalb, weil sie keine greifbare Realität abbilden, sondern von ihr im Wortsinne abstrahieren. In einem Kabinett der Ausstellung läuft eine Diashow mit Bildern aus dem US-Alltag der Parkplätze, Schnellstraßen, der weiten Räume und ihrer Leere, und all das findet sich in Mary Heilmanns Bildern wieder. Wer sie betrachtet und mit den gesehenen Dias im eigenen Kopf überblendet, erkennt die Ursprünge der Streifen, Flecken und Flächen in Heilmanns Bildern. Deren Formenreichtum geht allerdings weit darüber hinaus, es gibt Ähnlichkeiten, aber keine Abbildungen. In ihrer Gesamtheit ist es eine zugleich simple wie komplexe Malerei.
Ein Bild zu betrachten, wird Heilmann im Katalog zitiert, sei wie ein Kinofilm. Das gilt für die Turiner Ausstellung: Sie ist eine lange Kamerafahrt durch die Welt der Formen und der Farbe, die in immer neuen Formen und Zusammenstellungen erscheinen, ein Film ohne Anfang und Ende, vielmehr ein Zustand: der einer freien Kunst, die nichts will und wird, sondern einfach ist.
„Mary Heilmann“. Galleria Civica d’Arte Moderna e Contemporanea, Turin, bis 15. März. Katalog (Allemandi Editore, englisch, 220 Seiten), 30 Euro
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