piwik no script img

Die Schlucht

## 1941

Wir wurden auf einen Vorsprung oberhalb der Schlucht gebracht, wo sie mit Maschinenpistolen auf uns schossen. Die, die vor mir standen, fielen in die Schlucht. Als sich das Stoßfeuer mir näherte, stürzte ich mich hinunter.

Mir schien, ich stürzte in die Ewigkeit.

Ich fiel auf menschliche Leichen in einer blutigen Masse. Die Menschen stöhnten und viele bewegten sich noch. Die Deutschen und Polizisten liefen herum und töteten die, die noch lebten.

Als ich fiel, spürte ich keinen Schmerz, keinen Aufprall – nichts.

Ich hatte nur einen einzigen Wunsch – zu leben.

Babyn Jar ist eine große Schlucht am Rande von Kyjiw. Am 29. und 30. September 1941 erschießt hier das Sonderkommando 4a mehr als 33.000 Jüdinnen und Juden. Die Schlucht wird auch weiter als Erschießungsort genutzt. In der Besatzungszeit werden hier weitere Jüdinnen und Juden, Rom·nja, kranke Menschen, politische Gegner und Kriegsgefangene erschossen. Mehrere Tausende Menschen.

Der Deutsch-Sowjetische Krieg 1941–1945 war ein Vernichtungskrieg. Mindestens 14 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten wurden in diesem Krieg ermordet. Diese Opfer bleiben immer noch östlich unserer Erinnerungskarte.

## 1943

Am 18. August 1943 wählte das deutsche Lagerkommando unter den Häftlingen 100 dem Tode Geweihte. Wir wurden in Ketten gelegt, nach Babyn Jar gebracht und mussten Leichen ausgraben und sie verbrennen. Wir zogen die Leichen mit einer speziellen Hakenstange aus der Grube und legten sie auf Öfen aus Granitsteinen, Bahnschienen und Holzscheiten. Zuvor wurden die Leichen durchsucht und Goldstücke und Wertgegenstände beschlagnahmt.

Etwa 2000 Leichen wurden gestapelt, jeweils Brennholz dazwischengelegt, alles mit Öl übergossen und angezündet. Ein Stapel mit Leichen war bis zu vier Meter hoch und brannte 1 bis 2 Tage. In Babyn Jar wurden 50 bis 60 solcher Öfen gebaut.

## 1944

Mein Freund und ich gingen hin und schauten, was noch übrig war. Es war eine riesige, ja, majestätische Schlucht mit grobkörnigem Sand gewesen, aber jetzt waren da aus irgendeinem Grund weiße Steinchen.

Illustration: Anna Che

Ich bückte mich und hob einen auf: Ein verbranntes Stückchen Knochen, etwa so groß wie ein Fingernagel. Wir liefen lange über diese Knochen. Die Schlucht wurde weiter hinten eng, an einer Stelle war der Sand grau. Da wurde uns klar: Wir liefen über menschliche Asche.

Zitate: Aussage von Dina Pronitschewa, eine von wenigen, die die Massenerschießung 1941 überlebt haben. Aussage von Wladimir Dawadow, einer von wenigen Überlebenden aus der Zwangsarbeiter, die die Leichen verbrennen mussten. Dokumentarroman von Anatoli Kusnezow „Babyn Jar“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen