piwik no script img

Eine Stille aus Fragen

Der italienische Schriftsteller Carlo Levi bereiste 1958 das gespaltene Nachkriegsdeutschland. Sein Reisebericht ist feinfühlig und poetisch

Von Jens Uthoff

Es ist eine Zwischendiagnose mit sehr hohem literarischem Wert, an der man hier als Le­se­r:in auf knapp 150 Seiten teilhaben darf. Der jüdisch-italienische Mediziner, Maler und Schriftsteller Carlo Levi reist im Jahr 1958 nach Postnazi-Deutschland, er sieht ein Vakuum mitten in Europa, ein Land im Übergang, eines, das nun leidlich demokratisch funktioniert, zumindest in einem Teil. Das Herz des Landes, so schreibt er gegen Ende resümierend, schlägt „hartnäckig im Rhythmus seiner Maschinen […], und dennoch fühlt man, dass dort irgendetwas fehlt oder sich verbirgt oder gespalten, geteilt ist, gesichtslos, öde, und dass sich unter dem mechanischen, geordneten Schlagen dieses großen Muskels ein finsteres Schweigen befindet, eine hohle Stille aus Fragen und Erschütterung.“

Man würde an dieser Stelle, fehlte es nicht an Platz, gern die ganze Seite zitieren, auf der Carlo Levi dieses Land mit der medizinischen Metapher des Herzens seziert. Denn Levi schreibt in seinem Reisebuch „Die doppelte Nacht. Eine Deutschlandreise im Jahr 1958“ mit bewundernswertem sprachlichem Feingefühl über deutsche Befindlichkeiten 13 Jahre nach dem Ende des NS und des Holocaust, über die Weltteilung auf deutschem Gebiet, und zum Glück auch über persönliche kleine Triumphe.

Als Levi etwa in Ostberlin ist, kommt er auch zu einem Haus in Mitte, von dem ihm gesagt wird, es sei das „Haus von Göring“ gewesen (gemeint ist wohl das ihm unterstellte Reichsluftfahrtministerium in der Wilhelmstraße oder das zweiteilige „Haus der Flieger“ zwischen Leipziger und Niederkirchnerstraße, wie auch im Anhang erläutert wird). Dort tut er in einem einsamen Augenblick etwas, das für ihn erleichternd in jeglichem Sinne ist, nicht nur für die Blase: „Meine Freunde und ihre Frauen warten im Automobil auf mich. Da ich nun endlich allein bin und die Damen mich nicht sehen können, nutze ich, ohne groß darüber nachzudenken, die Abgeschiedenheit des Augenblicks, um im Dunkeln gegen die Mauer zu pinkeln.“

Diese Passagen bleiben hängen; sie zeigen, dass Carlo Levi (1902–1975) nicht nur ein toller Schriftsteller war, sondern dass er auch das Herz am richtigen Fleck hatte. Der gebürtige Turiner war Mitgründer der antifaschistischen Gruppe Iustizia e Libertà (Gerechtigkeit und Freiheit), er wurde vom Mussolini-Regime verfolgt. 1934 wurde er in Rom inhaftiert, in den beiden Folgejahren erst nach Grassano und daraufhin nach Aliano in der abgelegenen süditalienischen Region Basilikata verbannt. Von dieser Zeit handelt auch sein berühmtestes Werk „Christus kam nur bis Eboli“, das 1947 erstmals auf Deutsch erschien.

Es erstaunt, dass der in Italien 1959 erschienene Bericht seiner Deutschlandreise („La doppia notte dei tigli“) erst jetzt in deutscher Sprache erscheint, vor allem aufgrund der hohen literarischen Qualität. Dass es zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung für seine Gedanken in Deutschland keinen Markt gab, wundert weniger, der immer noch hässliche Deutsche wird hier in aller Ausführlichkeit dargestellt. Der Titel ist faustisch; er bezieht sich auf eine Stelle in Faust II, in der Fausts Türmwächter Lynkeus die von Faust verursachte Zerstörung beschreibt („Welch ein gräuliches Entsetzen / Droht mir aus der finstern Welt! / Funkenblicke seh ich sprühen / Durch der Linden Doppelnacht …“).

Carlo Levi: „Die doppelte Nacht. Eine Deutschlandreise im Jahr 1958“. Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker, C. H. Beck, München 2024.

176 Seiten,

20 Euro

Levi besucht nicht nur Berlin, seine Reise führt von München über Dachau, Augsburg, Ulm, Stuttgart, Schwäbisch Hall und Tübingen nach Berlin. Im Hofbräuhaus in München begegnet er erstmals Deutschen, er zeichnet ein Gespräch mit einer Antifaschistin nach, die dem jungen demokratischen Deutschland nicht traut und die ihr Seelenheil im Alkohol sucht („Alles Deutsche ist nichts weiter als Hass“). Levi besucht das KZ Dachau; die Orte, an denen dort gemordet wurde. Er spürt dem deutschen Geistesleben des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Tübingen nach. Er sinniert auch über die Mentalität „der“ Deutschen, attestiert ihnen eine lang angelegte gestörte Verbindung zu ihren Gefühlen. Eine innere Spaltung habe „eine monströse und isolierte Entwicklung der Gefühle hervorgebracht“, dies habe zur „Gefühlsbetontheit der Expressionisten und der Romantiker“ einerseits und zur „unempfindlichen Linse der reinen Vernunft und Staatsräson“ andererseits geführt.

Zentral ist aber der Berlin-Besuch, wo er zwei Ideologien aufeinandertreffen sieht, die sich selbst nicht recht zu trauen scheinen und die deswegen umso mehr Dominanz demonstrieren müssen. Schön für Berlin-Liebhaber auch die Stelle, wo ein Mann, den er vor seiner Reise in die geteilte Stadt bei einem Abendessen trifft, um dieses Berlin trauert. Alles könne man den Sowjets überlassen, nur die Spreemetropole nicht: „Wie kann man Berlin, das intelligente, wunderbar verkommene, vergeistigte, dekadente Berlin, ihrer Tugendhaftigkeit anvertrauen? Sollen sie sich den ganzen Westen nehmen, aber uns Berlin lassen.“

Diese Mischung aus Betrachtung und Beschreibung, mit den poetischen und politischen Zwischentönen, ist altes Feuilleton im besten Sinne, wie es gerade im Verschwinden begriffen ist. Man fühlt die BRD und die DDR des Jahres 1958 mit dem Autor, gerade in der Rohheit und der Gefühlskälte, die jene 1950er Jahre mit sich brachten. „Deutschland versteckt sich nicht vor anderen: Es versteckt sich vor sich selbst“, schreibt der Autor eingangs. Was das en détail auf den Straßen eines Staates bedeutet, der eineinhalb Jahrzehnte zuvor das größte Menschheitsverbrechen überhaupt angezettelt hat, das beschreibt Levi eindringlich, eindrücklich und präzise.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen