: Diese verrückte Stille
FAMILIENGEHEIMNISSE Was Gegenstände erzählen: „Sommertöchter“ von Lisa-Maria Seydlitz
VON MARGARETE STOKOWSKI
Lisa-Maria Seydlitz kann mit einem einzigen Satz eine ganze Familiengeschichte erzählen. „Es ist das einzige Foto, das ich von meinen Eltern und mir habe, wir sind darauf getrennt durch einen Knick.“ In ihrem Roman „Sommertöchter“ sind es vor allem die Fehler, die Unvollkommenheiten, die sprechen: die zwei Teile, in die ein Blumentopf zerbricht. Die ungeflieste Wand in einem Bad. Oder eben der Knick in einem Foto.
„Sommertöchter“ ist ihr erster Roman. Die Autorin, 1985 in Mannheim geboren, erzählt darin von Juno, einer jungen Frau, die ein Fischerhaus in Frankreich erbt und dort anfängt, die Geschichte ihrer Familie zu verstehen. Es ist ein sehr sommerliches, aber auch sehr melancholisches Buch.
Juno, die Ich-Erzählerin, lebt mit ihren Eltern irgendwo in Deutschland, in einem Haus im Grünen. Sie wächst allein auf, ist oft einsam. Für ihren Vater schämt sie sich auf diffuse Weise. Er geht nicht mehr arbeiten, schläft lange, isst wenig, nimmt Tabletten, verbringt einige Zeit in einer Klinik. Die Mutter will seinen Zustand nicht wahrhaben. Als er aus der Klinik kommt, will sie die Wände streichen und Vorhänge nähen, um noch mal neu anzufangen – oder es zumindest so aussehen zu lassen.
Auch Juno bemüht sich, eine Idylle zu schaffen. Sie geht sonntags von ihrem Taschengeld Brötchen kaufen, damit die Familie endlich mal gemeinsam frühstückt, und wenn die Mutter dem Vater aufträgt, im Garten Laub zu rechen, dann macht Juno das für ihn. Bis der Vater sich eines Tages umbringt.
Man liest nicht direkt von seinem Suizid. Seydlitz beschreibt, wie die Mutter den Vater im Haus sucht. Sie geht in den Keller, kommt wieder nach oben, übergibt sich. Sie sagt Juno, dass der Vater tot sei. Später gibt sie seine Anzüge an Bekannte weiter, außer den Gürteln, die sie alle auf einmal wegwirft. Diese indirekte Erzählweise ist typisch für Seydlitz. Sie sagt nicht „erhängt“. Sie sagt nur, dass die Mutter alle Gürtel, auch Junos, in die große Mülltonne im Garten schmeißt, zu den Essensresten.
Über weite Strecken kommt die Autorin ohne die direkte Beschreibung von Gefühlen aus und schafft dennoch eine traurige, zerbrechliche Stimmung. Juno erinnert sich vor allem an Dinge, an Gegenstände, wo keine Erinnerung an Gefühle mehr da ist – oder wo sie zu schwer auszusprechen wäre, wo Wörter wie „Enttäuschung“ oder „Fremdheit“ viel zu klar, zu definiert klingen würden. Als könnte sie diese Empfindungen durch Worte ersetzen, beschreibt sie die Gegenstände, das Fassbare, mit größter Genauigkeit: das Geräusch, das beim Zerbeißen von Eiswürfeln entsteht. Einen Teller mit Muscheln und Pommes, abgestellt auf einer Landkarte. Oder einen Brief, mit Tinte geschrieben auf hellem Papier. Und die Autorin schafft es, dass man sich als Leserin die Gefühle hinzudenkt oder eher hinzufühlt.
Es ist ein anonymer Brief, der Juno von einem alten Fischerhaus in der Bretagne erzählt, das angeblich ihr gehört. Sie fährt hin und begreift langsam, warum der Vater so komisch war und die Mutter so unzugänglich.
Die Geschichte lebt vom Szenenwechsel und bekommt dadurch etwas sehr Filmhaftes. Szenen aus Junos Kindheit mischen sich mit Bildern aus der Gegenwart. Das wirkt manchmal fahrig, aber in dieser Fahrigkeit doch leise und beständig, mit klaren Anschlussstellen. Manchmal verfolgen die Bilder einander wie Melodien in einer Fuge. Gerade noch ist Juno mit ihrem Vater im Freibad, sie steht am Beckenrand, er ruft „Spring!“, schon steigt sie aus dem Atlantik, mit Algen zwischen den Zehen.
Erst gegen Ende der Geschichte gibt es Gefühle, die ausgesprochen werden. Sogar ein Gewitter scheint nun Absichten zu haben: „Der Regen prasselt auf das Dach nieder, als hätte er es eilig, fertig zu werden.“ Erst jetzt gibt es Enttäuschung und Zweifel, aber auch so etwas wie Hoffnung oder zumindest Wünsche. „Ich sitze auf ihrer Matratze und habe einen Tee in der Hand, der mich wärmt, es ist kalt geworden im Haus. Ich wünsche uns jemanden, der gesundmachende Suppe kocht.“
Wo in Seydlitz’ Roman zu Beginn noch eine unausgesprochene Trauer zwischen allen Zeilen stand, da gibt es am Ende zumindest einen Blick nach vorne. Den Rest muss man sich dann wieder hinzudenken.
■ Lisa-Maria Seydlitz: „Sommertöchter“. DuMont, Köln 2012, 208 Seiten, 18,99 Euro