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Der blutige Tanz der ewigen Zweiten

Christopher Rüping widmet sich am Thalia Theater dem antiken Ajax-Mythos. Dafür verknüpft er ihn mit aktuellen Fragen nach Leistungsdruck und Scham

Raus mit dem ganzen Frust: Ajax rächt sich blutig an Odysseus Foto: Krafft Angerer/Thalia Theater

Von Robert Matthies

Es ist ein verstörendes, aber auch faszinierendes Bild: Kübelweise kippt Ajax dem verdutzten Odysseus das Theaterblut über den Körper. Bis in die ersten Reihen im Parkett des Hamburger Thalia Theaters spritzt es, und auf die Bühnenwände und auf eine riesige weiße Leinwand auf dem Bühnenboden. Die ganze aufgestaute Frustration, immer nur im Schatten eines anderen zu stehen, entlädt sich in einem minutenlangen Spektakel ungezügelter Gewalt. Als die Eimer leer sind, füllt Ajax sie aus einem Gartenschlauch wieder auf, traktiert den rotglänzenden Körper des Widersachers weiter, benutzt ihn als Pinsel auf dem Boden und zwängt ihm den spritzenden Schlauch in den Hals: „Nimm ihn in den Mund!“

Nach dieser brutalen, wie eine Vergewaltigung wirkenden Szene in der ersten Hälfte des Abends wird die blutverschmierte Leinwand über der Bühne aufgespannt. Wie ein zerrissenes Herz sieht das Bild darauf aus. Und wie eine Künstlerin sitzt die Täterin – denn Ajax ist hier, anders als im antiken Vorbild, eine Frau – vor ihrem Werk: eine makabere Action-Painting-Trophäe, von der das Blut weiter auf die Bühne tropft, während sich Odysseus im Hintergrund abduscht. „Das ist meine Rache!“, schreit Ajax.

Eindringliche Bilder findet Christopher Rüping, bekannt für seine ungewöhnlichen Interpretationen antiker Klassiker, für sein Stück „Ajax und der Schwan der Scham“ zum Auftakt der letzten „Lessingtage“ unter Intendant Joachim Lux. Es isteine Auseinandersetzung mit dem sonst selten beachteten „Ajax-Komplex“: mit der Scham und Qual, immer nur an zweiter Stelle zu stehen.

In Sophokles’Tragödie geht die Geschichte so: Ajax, einst mächtiger Krieger im Trojanischen Krieg, steht stets im Schatten des legendären Achill. Als ihm nach Achills Tod dessen legendäre Rüstung verweigert und stattdessen dem listenreichen und wortgewandten Odysseus zugesprochen wird, bricht Ajax’Welt zusammen. Die Demütigung führt zur Raserei, zu Scham und schließlich zum Suizid – ein tragischer Kreislauf von Ehrgeiz, Selbstüberschätzung und Erniedrigung.

„Ajax und der Schwan der Scham“: wieder am 9. 2., 19. 2., 22. 2., 2. 3., 23. 3., 24. 5., Thalia Theater, Hamburg

Ein Gefühl, das auch heute, in einer Welt, in der überall makellose High Performance eingefordert wird, viele kennen. Und so prüfen Rüping und sein spielstarkes Ensemble den antiken Stoff gute zwei Stunden lang an einer Gesellschaft ab, in der Leistungsdruck und Konkurrenzkampf allgegenwärtig sind. Mehr und mehr verschwimmen in ihr die Grenzen zwischen Realität und Inszenierung, zwischen dem, was ei­ne:r tatsächlich getan und verdient hat und bloßem Hype.

Dabei verlegt das Stück die Handlung nicht einfach in die Gegenwart. Es schafft viel mehr durch ein komplexes Spiel mit Kameras und Verfremdungseffekten eine Welt, in der Antike und Moderne ineinandergreifen. Subtil verwebt das Stück die antike Tragödie mit Anspielungen auf Darren Aronofskys Ballettthrillerfilm „Black Swan“. In beiden geht es um den Druck, Höchstleistungen zu erbringen, um den Kampf um Anerkennung und die daraus resultierenden Kränkungen und psychischen Zerrüttungen. Es geht um Identität, um den Umgang mit öffentlicher Schande, ums Doppelgängertum, die Zweitbesetzung und die Verzerrung von Identitäten.

Wie eine Künstlerin sitzt Ajax vor ihrem Werk und sieht es sich an: eine makabere Trophäe, von der das Blut weiter auf die Bühne tropft

Und um die Frage, wie man aus einem solchen System ausbrechen kann, das nur Erfolg kennt und keine Schwäche zulässt? Rüpings Ajax, von Maja Beckmann in Trainingshosen und Sneakern als Underdog gespielt, der unermüdlich wie ein Pulverfass aus unterdrückter Wut und verletztem Stolz über die Bühne tigert, verweigert sich einfach der Selbsttötung.

Aber auch Odysseus, den Nils Kahnwald als listigen, immer überlegenen Trickster in glänzendem Jackett gibt, scheitert. Es gelingt ihm einfach nicht, Ajax dazu zu bringen, sich in ihr Schwert zu stürzen. Dabei ist es ihr doch vorbestimmt und die Götter sind auf seiner Seite! Auf seine Gaslighting-Versuche aber fällt sie nicht herein und die Zweitbesetzung verweigert sich ebenfalls: Die Schauspielerin Pauline Rènevier spielt, sie wolle nicht mehr jemand anderes sein, als sie ist. Sie tritt hier in der Rolle der Balletttänzerin Sarah Lane auf, die im Black-Swan-Film der Schauspielerin Natalie Portman den tanzenden Körper geliehen hatte, aber im Abspann nur unter „Stunts“ erwähnt wird.

Schuld? Lässt sich im Zweifel abduschen Foto: Krafft Angerer/Thalia Theater

Auch dafür findet Rüping ein beeindruckendes Bild: Als Rènevier über Revenge Porn und Deep Fakes anhand der Geschichte einer Betroffenen erzählt, verwandelt sich ihr Gesicht live in das von Natalie Portman. Das sieht faszinierend aus, beeindruckend real, aber immer wieder auch durch Störungen gebrochen, etwa wenn das Gesicht beim Kuss mit Odysseus verzerrt wird und der Effekt auf dessen Gesicht wandert.

Rüping gelingt ein überraschend kurzweiliger und übrigens streckenweise auch wirklich komischer Abend. Klug und vielschichtig verknüpft er den Ajax-Komplex mit aktuellen Fragen nach Identität und Manipulation, nach Demütigung und Scham, ohne belehrend zu werden.

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