: Sex & Drugs & HipHop
Dem Film „Kneecap“ wird vorgeworfen, die IRA zu verherrlichen. In Wirklichkeit kommt die irische Befreiungsbewegung in ihm nicht gut weg. Außerdem ist er krawallig und lustig
Von Ralf Sotscheck
Es geht ziemlich gut los: Der kleine Naoise Ó Cairealláin erblickt, kaum dass er geboren ist, das Scheinwerferlicht eines britischen Armeehubschraubers. Danach folgen Szenen aus dem nordirischen Konflikt: vermummte Gestalten, Autobomben, schwer bewaffnete britische Soldaten und was man sonst noch bei einem Film über Nordirland erwartet.
Doch damit ist dieser Aspekt mehr oder weniger abgehandelt, und der Film widmet sich seinem eigentlichen Thema – der teils fiktionalen Geschichte der Band Kneecap, was auf Deutsch „Kniescheibe“, in diesem Zusammenhang jedoch „Knieschuss“ bedeutet, eine der bevorzugten Maßnahmen, mit denen die Irisch-Republikanische Armee (IRA) Verräter bestraft hat. Aber es geht eben nicht um die IRA und den Nordirland-Konflikt, sondern um die „Waffenstillstandsgeneration“ – das Belfaster Friedensabkommen wurde 1998 geschlossen – und den Werdegang der drei Rapper, die sich im Film selbst spielen.
Ein eher unwahrscheinlicher Auslöser für die Gründung der Band war das „Gesetz über Identität und Sprache (Nordirland) 2022“, wie es offiziell heißt. Als Naoise am Tag vor einer Demonstration für dieses Gesetz zur Förderung der irischen Sprache zusammen mit seinem Freund Liam Óg Ó Hannaidh Graffiti sprayt, wird der Freund verhaftet, Naoise entkommt. Liam weigert sich bei der Polizei, Englisch zu sprechen, und verbringt die Nacht in der Zelle, um auf einen Übersetzer zu warten.
Der Dolmetscher ist JJ Ó Dochartaigh, ein Musiklehrer an einer irischsprachigen Schule. Im Verhörraum sucht Polizistin Ellis (Josie Walker) Hinweise auf den Verbleib von Arló Ó Cairealláin (Michael Fassbender), einem gesuchten IRA-Mann und angeblich verstorbenen Vater von Naoise. Doch Liams Notizbuch, aus dem JJ für Detective Ellis übersetzen soll, enthält nur Texte über Drogen, Sex sowie den Widerstand gegen das britische Establishment – und LSD. Kurz bevor Ellis die Drogen entdecken kann, gelingt es JJ, das Notizbuch in seiner Jacke verschwinden zu lassen.
Während Liam nach einer Nacht auf der Wache am Morgen wieder freigelassen wird, fährt Naoise mit einem gestohlenen Auto ans Meer, um seinem als Yogalehrer untergetauchten Vater Arló zum Geburtstag zu gratulieren. Der Vater, gespielt vom Deutsch-Iren Michael Fassbender, hatte seinen eigenen Tod zehn Jahre zuvor inszeniert. Seinen Sohn hatte er schon früh gelehrt, dass „jedes gesprochene irische Wort eine Kugel für die irische Freiheit ist“.
JJ erkennt das Potenzial, das in den Versen aus Liams Notizbuch steckt, und er bastelt in seiner Garage die Musik dazu. Nach den ersten überraschenden Erfolgen geben sich Naoise und Liam die Namen Mo Chara und Móglaí Bap. Aus Angst davor, von Schülern erkannt zu werden, stülpt JJ sich eine Balaclava in den Farben der irischen Trikolore über den Kopf und erhält seinen Künstlernamen DJ Próvai.
Lange kann er seine Identität freilich nicht geheimhalten. Nach einem Disziplinarverfahren wegen seiner Mitgliedschaft in der Band wird er von der Schule gefeuert.
Für Kneecap ging anfangs nicht alles glatt. So verbot der irischsprachige Radiosender Raidió na Gaeltachta die Songs wegen „Drogenverweisen und Flüchen“. Dabei sind einige Flüche, die auch im Film vorkommen, durchaus poetisch, zum Beispiel: „Möge der niedrigste Stein im Meer auf deinem Kopf liegen.“
Natürlich gibt es auch eine Liebesgeschichte. Liams neue Freundin Georgia, gespielt von Jessica Reynolds, ist nicht nur Protestantin, sondern auch die Nichte von Polizistin Ellis. Die Sexszene ist reine Satire: Während die beiden vögeln, werfen sie sich diametral entgegengesetzte politische Slogans an den Kopf, bis Liam mit dem IRA-Kampfruf „Tiocfaidh ár lá“ („Unser Tag wird kommen“) zum Orgasmus kommt.
Der Film wurde 2023 binnen sieben Wochen in Belfast und der irischen Grenzstadt Dundalk gedreht. Die Regie führte der englische Schriftsteller und ehemalige Journalist Rich Peppiatt, der seit fünf Jahren in Belfast lebt. Er erkannte das Potenzial für einen Film, und als er Kneecap zum ersten Mal live erlebte, sagt er: „Es brauchte einen Außenstehenden. Das gibt einem eine etwas andere Perspektive und erlaubt es einem, jeden auf die Schippe zu nehmen, was schwieriger ist, wenn man mit einer ganz bestimmten Sichtweise aufgewachsen ist.“
Er benötigte allerdings eine Menge Geduld. „Ich habe drei, vier Monate warten müssen, bis sie endlich auf eine E-Mail geantwortet haben“, sagt Peppiatt. „Sie stimmten zu, sich mit mir auf ein paar Pints Guinness zu treffen. Wir kamen ins Gespräch, und aus den paar Pints wurden etwa zehn, und am nächsten Morgen stand der Film.“
Weltpremiere war vor einem Jahr beim Sundance Independent Film Festival in Utah, wo Kneecap einen Publikumspreis gewann. Es war das erste Mal, dass auf dem Festival ein irischsprachiger Film gezeigt wurde. Die Band fuhr in einem mit Graffiti übersäten Land Rover der nordirischen Polizei vor.
Nachdem Kneecap bei den British Independent Film Awards Anfang Dezember auch noch den Preis für den besten britischen Film gewonnen hatte, bekam die englische Boulevard-Presse, allen voran die Daily Mail, einen Wutanfall: „Warum hat die National Lottery öffentliche Gelder in Höhe von 1,6 Millionen Pfund für einen Film über eine irische Rap-Band gezahlt, die beschuldigt wird, die IRA zu verherrlichen?“
Dieser kleinformatige Schmutzkübel hat den Film nicht verstanden. Er witterte schon immer in jedem Iren einen verkappten Bombenleger. In einem Lied aus den Siebzigerjahren heißt es, der „Mann von der Daily Mail“, so der Titel, melde seinem Chefredakteur besorgt, dass irische Hühner Handgranaten statt Eier legen. Peppiatt sagt, er hätte sich geärgert, wenn der Film dem Blatt gefallen hätte.
In Wirklichkeit kommen die IRA und ihre Splittergruppen nicht sonderlich gut weg. Die „Radical Republicans Against Drugs“, kurz RRAD, wollen dem Hauptgeschäftszweig von Naoise und Liam – dem Drogenhandel – einen Riegel vorschieben, verlangen aber später, dass die beiden die Band aufgeben und das Geld aus den Drogendeals an die Organisation abführen. Sie sind zwar gegen Drogen, doch an erster Stelle sind sie radikale Republikaner – und das ist teuer.
Selbst vor einer IRA-Ikone macht der Film nicht Halt. In Anspielung auf Naoises Vater, der als Yogalehrer arbeitet, fragt Liam: „Wie nennt man einen IRA-Mann, der Yoga unterrichtet?“ Die Antwort: Bobby Sandals. Naoises Filmvater Michael Fassbender hatte 2008 in Steve McQueens Film „Hunger“ die Rolle des Bobby Sands gespielt, der 1981 im Hungerstreik gegen die Haftbedingungen gestorben ist und zur Legende wurde.
Irland hat „Kneecap“ als besten internationalen Spielfilm bei den Oscars eingereicht. Gewinnen wird er nicht, so viel Humor haben die Hollywood-Juroren dann doch nicht. Der Film ist krawallig und pubertär, lustig und ernsthaft, politisch und profan, ein Generationenporträt und ein Musikfilm – Sex, Drugs & HipHop.
Aber er hat auch eine Botschaft. „Der Nachsatz, in dem wir sagen, dass alle 40 Tage eine Sprache stirbt, hat seinen Grund“, sagt Peppiatt. „Wenn das geschieht, ist die Sprache weg und kommt nie wieder, und mit ihr verschwinden auch Geschichte und Kultur. Wir können die Menschen ermutigen, sich die Sprachen ihrer Großeltern anzuhören und sie zu lernen. Das wäre eine tolle Sache.“
„Kneecap“. Regie: Rich Peppiatt. Mit Naoise Ó Cairealláin, Liam Óg Ó Hannaidh u. a. Vereinigtes Königreich/Irland 2024, 105 Min. Ab 23. 1. im Kino
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