: Der Roman als Einserschmäh
Mit „Wackelkontakt“ hat Wolf Haas den ersten rekursiven Mafia-Roman der Welt geschrieben, jedenfalls zur Hälfte, und sorgt damit für (fast) unendlichen Lesespaß. M. C. Escher lässt grüßen
Von Katharina Granzin
Wir können uns Franz Escher als einen recht unauffälligen Menschen vorstellen, als einen phlegmatisch veranlagten Mann in fortschreitenden mittleren Jahren, der irgendwann irgend etwas studiert hat und seit jener Zeit in seinem Studentenjob festhängt. Escher verdient seinen Lebensunterhalt nämlich als Trauerredner; und dass er sich in diesem Berufsfeld mit den Jahren einen gewissen Ruf erworben hat, erfüllt ihn mit bescheidenem Stolz.
Seine einzige große Leidenschaft in diesem Leben ist das Legen von Puzzles. Daneben liest er gern Mafia-Romane, und mit der Lektüre eines solchen beginnt er, als er eines Tages auf den Elektriker wartet, weil es in Eschers Küche einen Wackelkontakt gibt. Die Hauptfigur dieses Mafia-Romans ist ein ehemaliger Mafioso, der ein Zeugenschutzprogramm durchläuft und im Gefängnis einen deutschen Häftling kennenlernt, der ihm ein Buch schenkt. In diesem Buch geht es um einen Mann namens Escher, der auf den Elektriker wartet.
Natürlich heißt Escher nicht umsonst so, wie er heißt, denn im Folgenden beginnen sich die beiden Romane ineinander zu spiegeln und damit ein scheinbar paradoxes Vexierspiel zu erzeugen, ähnlich wie es in den Bildern des Grafikers und Illusionskünstlers M. C. Escher geschieht. Die Romanfigur Franz Escher muss ihr Buch über den Mafioso Elio, der unter dem Decknamen Marko nach Deutschland zieht, um sich eine neue Existenz aufzubauen, immer wieder beiseitelegen; und ebenso muss Marko seine Franz-Escher-Romanlektüre ständig unterbrechen. Denn in beider Leben ist auf einmal so viel los, dass sie nur phasenweise zum Lesen kommen. Beim Besuch des Elektrikers in Eschers Wohnung ist nämlich etwas Schreckliches passiert, und nun befindet Escher sich in einem seltsam aktionsgetriebenen Ausnahmezustand. Markos Leben wiederum wird sowieso völlig umgekrempelt, da er sich ja eine ganz neue Identität erarbeiten und eine neue Sprache lernen muss. Nur blöd, dass er zwischendurch in alte Gewohnheiten zurückfällt.
Und weil dieses präzise durchgestaltete literarische Spiel ein Roman von Wolf Haas ist, ist das alles nicht nur eine virtuose l’Art-pour-l’Art-Etüde, sondern vor allem eine riesengroße Gaudi. Der Autor hat spürbar selbst den größten Spaß bei der Sache und lebt sich unter anderem in linguistischer Hinsicht hemmungslos aus. Immerhin muss der Ex-Mafioso Marko ja Deutsch lernen und darf daher unablässig im Formenreichtum seiner neu erlernten Zweitsprache schwelgen. Und als Marko mit seiner neuen deutschen Familie von Duisburg nach Wien zieht, lernen deutsche Lesende ganz am Rande auch noch ein wenig Ösi-Slang: Zum Beispiel heißt „Trick 17“ in Wien „Einserschmäh“ – das erfährt zu ihrer Freude Markos aufgeweckte Tochter Ala, deren Name sicher nicht zufällig als kürzestmögliches Palindrom gelesen werden kann. Genau solch ein Einserschmäh ist der ganze Roman, und das viele Gerede um den Schmäh deshalb auch wieder offensiv rekursiv.
Wolf Haas: „Wackelkontakt“. Hanser Verlag, München 2025, 240 Seiten, 25 Euro
Nun ist das Ganze zwar ein großer, aber kein völlig unendlicher Spaß; jedenfalls nicht in dem Sinne, dass es keine Auflösung der Rekursion gäbe. Darin funktioniert „Wackelkontakt“ dann doch anders als ein Bild von M. C. Escher. Trotz aller Escher-Inspiration ist eine unendliche Ausweglosigkeit im Roman nicht vollständig realisiert; aber dadurch, dass er zwei Geschichten gleichzeitig erzählt, die sich sowohl ineinander spiegeln als auch unaufhaltsam aufeinander zu laufen, erzeugt der Autor zweifellos eine unwiderstehliche Dauerspannung. Und die hat auch damit zu tun, dass Haas auch ein versierter Krimiautor ist und sich auf handlungsorientierten Spannungsaufbau versteht.
Auf jeden Fall beginnt der Roman mit einem Todesfall und endet mit einer Entführung. Durch die doppelte Verschraubung der Handlung bei kontinuierlicher Steigerung des Tempos maximiert der Autor den Spannungsertrag. Und weil er weiß, dass die Leserschaft für das Aushalten solcher Spannung stets belohnt werden muss, gibt es am Ende eine Auflösung im gleichen Hier und Jetzt für beide Erzählebenen. Das ist schon darum keine Kleinigkeit, weil die Handlungsstränge – und das ist noch komplexer als bei M. C. Escher – in unterschiedlichen Tempi und auf verschiedenen Zeitschienen ablaufen: Während der Franz-Escher-Roman nur ein paar Wochen erzählte Zeit umfasst, vergehen im Ex-Mafioso-Roman ungefähr zwei Jahrzehnte. Escher also liest sich von der Vergangenheit bis in die Gegenwart hinein, Marko hingegen liest so lange die Zukunft, bis sie zu seiner Gegenwart geworden ist.
Ja, so ungefähr funktioniert es wohl. Aber was nützen da alle Erklärungen? Man muss es einfach selbst gelesen haben.
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