: Landkarten und Denkräume
Ein Sammelband stellt aktuelle Forschungsergebnisse und Denkansätze zur Kolonialismuskritikunter anderem aus Literaturwissenschaft und Geografie vor. Und bringt sie verständlich auf den Punkt
Dass eine Kritik der Kolonialität weiterhin aktuell und dringend geboten ist, zeigt der im Bielefelder Aisthesis Verlag erschienene Sammelband „(Post-)Koloniale Welten“ in zehn eindrucksvollen Beiträgen. Sie bieten einen informativen Einblick in aktuelle Forschungsergebnisse, vor allem aus der Geografie und der Literaturwissenschaft.
Warum der große Anteil geografischer Untersuchungen? Wie die Herausgeber:innen eingangs erläutern, war gerade die wissenschaftliche Erkundung neuer, fremder Territorien eng mit dem Kolonialismus verbunden. Fast wie zur Wiedergutmachung bemühen sich die beteiligten Geograf:innen um eine gleichberechtigte Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen aus dem Globalen Süden und nehmen sozialwissenschaftliche Fragestellungen auf.
In zwei Aufsätzen werden Formen des Widerstands indigener und bäuerlicher Gemeinschaften gegen die Ausbeutung von Ressourcen oder gegen die Folgen technologischer Großprojekte untersucht. Die Autor:innen zeichnen dabei nach, wie sich im Verlauf der Proteste ein Bewusstsein für den Wert der eigenen Lebensformen und der mit ihnen verbundenen Denkweisen entwickelt, die die Protestierenden dem westlichen Ideal der Moderne entgegensetzen.
Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen verbinden die Autor:innen mit zentralen Elementen postkolonialer Theorie, etwa dem Konzept der epistemischen Ungerechtigkeit, also einer Kritik an der systematischen Missachtung traditioneller Wissensbestände und Denkweisen aus dem Globalen Süden. Ausgeblendet wird dabei jedoch leider, dass prämoderne Denkweisen gelegentlich im Konflikt mit positiven Errungenschaften der Moderne, etwa der Gleichberechtigung von Frauen, stehen. Hier wäre noch weitere Denkarbeit zu leisten.
Die literaturwissenschaftlichen Beiträge untersuchen mehrheitlich kolonialismuskritische Schriften, von einer Abhandlung des peruanischen Kolonialbeamten Guaman Poma (1615) bis zu Mithu Sanyals postkolonialem Pop-Roman „Identitti“ (2021). Poma geht dabei über eine Analyse und Anklage des Raubbaus der spanischen Eroberer an Natur und Gesellschaft in Lateinamerika hinaus, indem er die Möglichkeit einer klugen Weltregierung entwirft, während Sanyal Homi Bhabas Konzept hybrider Identität fiktional weiterentwickelt.
Isabelle Staufer, Katharina List, Gerhard Rainer, Nicole Schneider (Hg.): „(Post-)Koloniale Welten. Umschreiben und Umkartieren hegemonialer Verhältnisse.“ Aisthesis Verlag, Bielefeld 2024, 248 Seiten, 34 Euro
Wer schon einmal an dem Versuch, das Denken Homi Bhabas zu verstehen, gescheitert ist, kann hier staunend entdecken, wie sich auch anspruchsvolle theoretische Konzepte verständlich erklären und durch praktische Anwendung verdeutlichen lassen. Überhaupt zeichnen sich die Aufsätze dieses Bandes durch dankenswerte Klarheit aus. Vielleicht liegt es daran, dass sie aus Vorlesungen hervorgegangen sind, die sich nicht an ein akademisches Fachpublikum, sondern an Studierende richteten. Auf jeden Fall werden damit die Aufsätze auch für außeruniversitäre Leser:innen interessant. Im abschließenden (Mail-)Interview, das die Mitherausgeberin Isabelle Stauffer mit dem Berliner Politologen Hajo Funke geführt hat, werden auch ungelöste Streitfragen der postkolonialen Theorien angesprochen. Unter anderem geht es hier noch einmal um die seit jeher strittige Bewertung der europäischen Aufklärung: War sie nur eine halbe Sache, weil sie die Frauen, die Kinder und die Schwarzen von ihrem Freiheitsversprechen ausschloss? Diente ihr mitunter brachialer Liberalismus am Ende vor allem der Legitimation von Landraub und Sklaverei? Die Diskussion der Fragen, die die Beschäftigung mit der Kolonialität aufgeworfen hat, ist noch lange nicht abgeschlossen. Renate Kraft
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