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Eine imaginierte intensive Verbundenheit

Der finnische Autor Quynh Tran erzählt von den Nähe- und Distanzbeziehungen innerhalb einer nach Finnland immigrierten Familie

Von Carola Ebeling

Es ist eine Familiengeschichte besonderer Art, die der 1989 geborene finnische Autor Quynh Tran in seinem zweifach preisgekrönten Romandebüt „Schatten und Wind“ erzählt. Er wuchs im finnlandschwedischen Jakobstadt auf und hat neben der vietnamesischen Herkunft einige weitere biografische Daten mit seinem Ich-Erzähler gemein. Dieser lebt ebenfalls in Jakobstadt, in den 90er-Jahren immigrierte er mit seinem Bruder Hieu und seiner Mutter, Má genannt, nach Finnland. Der Roman fokussiert sich auf eine Zeit, in der der Erzähler acht Jahre, sein Bruder 15 Jahre alt ist.

Tran erzählt in kurzen Kapiteln, erfasst Alltagsszenen, Ausschnitte, die verbunden sind durch die Wahrnehmungen des Kindes: „An den Wochenenden, wenn wir alle zu Hause waren, weckte mich manchmal ein still und sanft fallender Regen. Hieus zusammengeknüllte Laken drüben auf der anderen Zimmerseite. Ich schloss die Augen, schlief wieder ein. Das immer weicher werdende Trommeln der Regentropfen auf das Blech, die Regenkälte an den Fensterscheiben, als wären sie meine Haut.“

Momente einzufangen, sinnliche Details aufzunehmen und so atmosphärische Dichte zu kreieren, ist eine große Stärke des Autors. Das Fragmentartige, das Erfassen von Ausschnitten und zugleich die Reduktion darauf, entspricht der kindlichen Wahrnehmung. Tran findet dafür eine Sprache, die einerseits klar, in diesem Sinne einfach ist. Zugleich aber geht er mit dichten, oft poetischen Bildern und Formulierungen über die kindliche Perspektive hinaus. Eine Gleichzeitigkeit, die in sich völlig stimmig wirkt, und es gelingt dem Autor, eine große Nähe zu dem Achtjährigen herzustellen.

Die Mutter und der Bruder erscheinen den Lesenden allein aus seiner Sicht. Má wird als eine Frau gezeichnet, die zielstrebig versucht, in dem neuen Land finanziell Fuß zu fassen. Dabei ist sie gezwungen, auch schlecht bezahlte Jobs anzunehmen. Und wird erfinderisch, wenn sie einen Filmverleih mit vietnamesisch synchronisierten Filmen für die Community vor Ort organisiert.

Ihre Verletzlichkeit scheint auf, wenn der Erzähler die Begegnungen und schließlich den Bruch mit der einzigen Freundin Lan Pham schildert. Es sind Situationen, Zusammenhänge, die er nur teilweise verstehen kann, die in ihrer Kombination aber für die Le­se­r*in­nen deutbar werden.

Greifbar wird hier auch die Einsamkeit Más, indirekt vermittelt der Text nicht nur an dieser Stelle, was die Migration nach Finnland für sie bedeutet. Seinen Fokus aber richtet der Roman auf die Nähe- und Distanzbewegungen in der kleinen Familie. In dichten Szenen wird die Identifikation mit dem älteren Bruder deutlich, zugleich die Entfremdung, denn das Verhalten des pubertierende 15-Jährigen bleibt dem Jüngeren unverständlich. Fasziniert ist er von Laura, der ersten Freundin Hieus. Die Momente alltäglicher Sinnlichkeit zwischen ihr und Hieu, ihre glühende Verliebtheit, geschildert aus der Sicht des Achtjährigen, gehören zu den schönsten des Buches.

Quynh Tran: „Schatten und Wind“. Aus dem Schwedischen von Andreas Donat. Residenz Verlag, Salzburg/Wien 2024,256 Seiten, 24 Euro

Die Familie ist ein Schutzraum, Gesten zärtlichen Vertrauens zwischen dem Erzähler und seiner Mutter zeugen von inniger Nähe. Doch das Verhältnis zwischen Hieu und Má ist ambivalenter, und als Hieu Geld unterschlägt, bestraft die Mutter ihn mit heftigen Schlägen. ´

Es gibt in diesem Roman keinen Handlungsverlauf im Sinne eines Plots. Aber doch eine unterschwellige inhaltliche Verschiebung. Je mehr der Zusammenhalt der Familie in der Erzählgegenwart gefährdet ist – und das wird vorangetrieben durch eine verstörende Gewalttat Hieus gegen eine junge Frau –, desto mehr erinnert sich der Erzähler an die Ankunft in Finnland, an den ersten Sommer dort: „In dieser Nacht, als Hieu wieder in seinem Bett war, kamen erneut die Bilder zu mir, ohne Vorwarnung. Der erste Sommer. Ein Wunderbaum, der am Rückspiegel baumelte. Draußen die flimmernd grüne Landschaft. Sie hatten mich zurückgelassen und waren losgefahren.“ Losgefahren, um eine Woche lang im Wald Beeren zu sammeln für den Verkauf auf dem Markt. Má, Hieu, Lan Pham – ohne ihn, der noch zu klein war und der nun diese Tage im Wald als eine Zeit intensiver Verbundenheit zwischen denen imaginiert, die sich inzwischen aus verschiedenen Gründen voneinander entfernt haben.

Diese Passagen verweisen auf die Kraft der Imagination und, ohne den Erzähler und den Autor in eins zu setzen, vielleicht auch auf beider Entdeckung der Möglichkeiten literarischen Erzählens. Das vorliegende Debüt jedenfalls ist dafür ein vielschichtiges, fein gewobenes Beispiel.

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