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Archiv-Artikel

Frei interpretiert Ein Zentimeter

Ich bin nämlich nicht so die Kämmerin

Ich hab kein Geld, um zum Friseur zu gehen, und frage Stefan, ob er mir die Spitzen schneiden kann. Er sagt „klar“, und er sieht ein bisschen stolz aus, dass ich ihn darum bitte. Ich hab ihm schon oft die Haare geschnitten, manchmal ein bisschen experimentell, aber eigentlich immer zu seiner Zufriedenheit. Einmal hab ich ihm so eine asymmetrische Hippiefrisur gemacht, das war toll und sehr ausgefuchst, denn man konnte den asymmetrischen Teil auch hinters Ohr machen, für die Arbeit zum Beispiel, und dann je nach Laune wieder rausholen.

Heute soll er mir die Haare schneiden. Er kämmt sie mir vorher sogar. Das ist gar nicht so leicht, ich bin nämlich nicht so die Kämmerin. Überall sind Knoten. Auch ein Grund, warum ich nicht zum Friseur will: Die motzen immer, dass ich meine Haare nicht ordentlich kämme, und dann schäme ich mich immer ein bisschen. Aber Stefan kämmt geduldig meine nassen Strähnen und nimmt dann die Schere in die Hand. Ich sage: „Ungefähr ein Zentimeter, nur die Spitzen.“ Er fängt an zu schneiden, sehr vorsichtig und langsam. Finde ich gut. Im Spiegel sehe ich sein Gesicht und wie er sich Mühe gibt. Ich sehe nicht genau, was er macht, aber er sieht gut dabei aus. Dann sagt er „fertig“ und ich sage „danke schön“ und drehe mich um.

Auf dem Boden hinter mir liegen ganz viele abgeschnittene Strähnen, alle ungefähr zehn Zentimeter lang. Ich schreie. „Spinnst du? Ich hab gesagt, ein Zentimeter, und was ist das?“ Ich hebe ein Stück Strähne hoch und halte es ihm vors Gesicht. Ich bin ja nicht eitel, aber verarscht werde ich nicht gerne. „Na ja“, sagt er, „ich dachte, ein Zentimeter, das ist ja gar nichts.“ „Ja“, sage ich, „ich wollte ja auch sozusagen gar nichts!“ „Ach so“, sagt er. „Wie viel ist denn für dich ein Zentimeter?“, frage ich. Er guckt sehr unschuldig und ein bisschen süß: „Na ja, je nachdem.“

MARGARETE STOKOWSKI