: Die Welt vom Sofa aus besehen
PERSONENBESCHREIBUNG Im Lichtblick Kino ist „Wollis Paradies“ von Gerd Kroske zu sehen. Es ist ein Porträt des Hamburger Libertins und Zuhälters Wolli Köhler, der schon von Hubert Fichte interviewt worden war
VON DETLEF KUHLBRODT
Angefangen hatte alles in der Zeit der Jahrtausendwende, als der Berliner Dokumentarist Gerd Kroske den Boxer Norbert Grupe für seinen Film „Der Boxprinz“ porträtierte. Der Schwergewichtsboxer war durch seinen skandalträchtigen Boxstil und seine Verwicklungen mit dem kriminellen Milieu von Hamburg-St. Pauli bekannt und sehr berühmt dadurch geworden, dass er 1969 im „Aktuellen Sportstudio“ jede Frage des Reporters mit Schweigen beantwortet hatte. Über Grupe, der im Jahr 2004 in Mexiko starb, kam Gerd Kroske jedenfalls zu Wolli Köhler, mit dem der Boxer eng befreundet war.
Wolli Köhler ist eine Hamburger Legende. Der aus Sachsen stammende ehemalige Bordellbesitzer wurde in den Siebzigern auch von Hubert Fichte in dem Buch „Wolli Indienfahrer“ porträtiert und war auch Vorbild für die Hauptfigur des 1992 erschienenen Romans „Einer von der Straße“ des Hamburger Alt-Beatpoeten Wolf Wondratschek. „Wollis Paradies“ ist ein Kammerspiel. Zwölf Tage hatte der Filmemacher ausschließlich in der Hamburger Vorortwohnung seines damals 73-jährigen Helden gedreht. Die Dreharbeiten waren nicht ganz einfach, da Köhler die Angewohnheit hatte, stets erst um 17 Uhr aufzustehen.
Der Film erzählt einen Tag, der irgendwann auf dem schwarzen Ledersofa beginnt, um in der blauen Morgendämmerung auf dem Balkon seiner Wohnung im Stadtteil Ohlsdorf zu enden. Im seidenen Morgenmantel sitzt Wolli auf dem Sofa und erzählt; wie er nach vier Jahren in der Oberschule in Waldheim „gelüftet“ wurde. Wie er eine Weile in der Nachkriegszeit im Bergbau arbeitete, wie er nach Hamburg kam, wie er sich mit verschiedenen Jobs auf St. Pauli durchschlug. Wie er in den Sechzigern, als Pornografie noch illegal war, Pornobildchen verkaufte, Captagon für die Drogenfreunde vertickte, Pornofilmchen in Reifen schmuggelte, ein illegales Pornokino führte. Wie er schließlich Zuhälter wurde, ein Bordell mit sozialistischer Ausrichtung eröffnete, sich kurzzeitig wie Al Capone fühlte; wie er auch Sex mit Freiern hatte, weil man nicht das von einer Frau verlangen dürfe, was man nicht auch selbst zu geben bereit sei.
Manchmal trägt er selbst geschriebene, von Brecht und Villon beeinflusste Rebellenlyrik vor oder erzählt, dass er sich nicht wie ein Regisseur, sondern in den Büchern wie ein Tourist seines eigenen Lebens fühlen würde. Einmal stutzt man kurz, als er erzählt, dass man als Zuhälter seine Frau auch schlagen müsse.
Seine Frau Linda, der man das Hippiemädchen noch ansieht, berichtet, wie sie sich kennenlernten. Man sieht Wolli in der Badewanne, als begabten Zeichner kleinteiliger, oft erotischer Collagen in seinem Arbeitszimmer. Er zeichne nicht, um Bilder zu verkaufen, sondern um mit den Problemen klarzukommen, die während des Zeichnens entstehen; eigene Texte trägt er auch vor, wie das 1956 geschriebene „Lied der Penner“, in dem es heißt: „Wir haben mit euren Töchtern geschlafen/ Sie haben uns auf die Läuse geflennt/ Für uns war noch jede Brücke ein Hafen/ wo man die stille, heilige Nacht verpennt/ Wie habt ihr mit eurer Tugend geprotzt/ uns ließt ihr unbeachtet abseits stehen/ Wir sind von der Gesellschaft ausgekotzt/ Gerade deshalb ist das Leben schön.“
Auf die Frage Hubert Fichtes, was er am liebsten mache, antwortet Wolli: „Am liebsten mag ich Haschisch rauchen, Liebe und Musik hören“. Man meint, in seiner Stimme die Lust an dieser Antwort und die Begeisterung des Schriftstellers über diese Antwort zu spüren. Am besten ist eine dokumentarische Szene aus den späten Sechzigern, in der eine Hure in schönstem Hanseatisch ihren Job erklärt: „Und dann wird gebumst, und du denkst, hoffentlich ist der gleich fertig, und dann das übliche Blablabla.“
Leicht bekifft und mit leuchtenden Augen berichtet der begnadete Selbstdarsteller von Vollmondpartys auf Goa, von der Supermusik auf Haschkeksen. Und wie er da einmal zwei Monate lang nicht masturbiert und während seines Zölibats zu leuchten angefangen hätte. Alle Leute „im Puff, äh Bus“ hätten ihre Essensachen mit ihm geteilt, und es sei immer noch wichtig, mit Gandhi über Enthaltsamkeit nachzudenken.
„Wollis Paradies“ ist ein schöner kleiner Dokumentarfilm, bei dem man auch an die Biografien seiner älteren und jüngeren Generationsgenossen denkt: Rolf Eden, Bernd Cailloux, Peter Jürgen Boock, Bernward Vesper. Der mit Jazzmusik untermalte Film öffnet weite Landschaften, auch wenn sein Held nur noch selten die Wohnung in Hamburg-Ohlsdorf verlässt.
■ „Wollis Paradies“. Regie: Gerd Kroske. Deutschland 2007, 60 Min.
■ Heute im Lichtblick-Kino, 18 Uhr, in Anwesenheit des Regisseurs