: Bis in die Stratosphäre
Variationen, Brüche, Tradition und Humor. Was das US-R&B des Jahrgangs 2024 brachte? Gute Vorsätze, noch bessere Alben
Von Sven Beckstette
Jede Generation schreibt die Musikgeschichte fort. Dies gilt natürlich auch für den zeitgenössischen US-R&B. Mit Liv.e und Ravyn Lenae steht nun die Gen Z bereit, um das Genre mit ihren eigenen Themen, Vorstellungen und Klängen weiterzuentwickeln. So hat Ravyn Lenae in diesem Jahr ihr zweites Album „Bird’s Eye“ veröffentlicht. In ihrem Sound deutet sich ein Aufbruch Richtung Rock und Elektronik an. Brachialer Krach steht im Kontrast zum hellen, glockenklaren Gesang der 25-Jährigen und lässt ihre Stimme und Persönlichkeit in neuen Facetten erstrahlen.
Neben Veröffentlichungen jüngerer Musiker*innen, ragten aus dem US-R&B des Jahrgangs 2024 jedoch drei neue Alben heraus, die mit Sy Smith, Bilal und dem Duo NxWorries von eingeführten Künstler*innen des Genres stammen. Mit „Until We Meet Again“ hat Sy Smith ihr inzwischen sechstes Werk vorgelegt. Die 46-jährige Sängerin und Songwriterin aus Los Angeles begann ihre Karriere in den 1990er-Jahren als Backgroundsängerin für Brandy und Whitney Houston. 2000 veröffentlichte sie ihr Solodebüt.
Ihr aktuelles Werk hat Smith nun mit verschiedenen Rap-Produzenten aufgenommen, darunter Phonte Coleman, Teil von Little Brother. Auch wenn das Stück „All The Ways“ durch einen echten Kopfnicker-Beat besticht, stellt HipHop nur eine der Klangfarben unter den zehn Songs auf „Until We Meet Again“ dar. Denn die Auswahl der Stücke ist vielfältig und spiegelt damit genau die Wandlungsfähigkeit in der Stimme von Sy Smith wider.
Da gibt es eine klassische Klavierballade in „Always Pick Up For You“ mit Tonartwechsel, Streicherarrangement und weiteren Steigerungselementen, durch die Smith aber lieber leichtfüßig tänzelt, als sie mit weiterem Pathos aufzuladen. Für die lateinamerikanische Rhythmik in „Masterclass“ hat sie Unterstützung von Meisterpercussionistin Sheila E. erhalten, in deren Band Smith einst gesungen hat.
Besonders hervor sticht „Slide“, ein lodernder Jazzfunk-Groove, der von einem Funken sprühenden Basslauf entflammt wird. Seinen druckvollen Schub kontert Smith, indem sie die Noten elastisch in die Länge zieht, sodass zwei gegenläufige Dynamiken entstehen.
Gesanglich erinnert der engelhafte Sopran von Sy Smith an die Chicagoer Künstlerin Minnie Riperton (1947 bis 1979), vor der sie sich bereits mit einer Coverversion von „Inside My Love“ verbeugt hat. Auch auf ihrem neuen Album begibt sich Smith immer wieder auf Ausflüge in das für Riperton charakteristische sehr hohe Pfeifregister.
Im Song „Remember How To Fly“ schwingt sie sich, umschwirrt von den gedämpften Trompetentönen des Pop-Jazzers Chris Botti schließlich zu den höchsten Stimmlagen bis hinauf in die Stratosphäre.
US-Sänger Bilal ist ähnlich lange im Geschäft wie Sy Smith. Sein Debüt „1st Born Second“ sorgte 2001 mit Singleauskopplungen wie „Soul Sista“ für Furore. Das Nachfolgealbum „Love For Sale“ kursierte 2006 bereits vor der Veröffentlichung als Raubkopie im Netz, weshalb Bilals früheres Label das Werk nie offiziell herausbrachte. Weitere Alben auf kleineren Labels folgten. Erst 2015 erhielt Bilal plötzlich wieder mehr Aufmerksamkeit: Rapper Kendrick Lamar hatte ihn als Sänger für sein bahnbrechendes Werk „To Pimp a Butterfly“ verpflichtet.
Kurz darauf veröffentlichte Bilal mit „In Another Life“ ein für ihn wichtiges Soloalbum. Dann wurde es wieder still um den 45-Jährigen. Erst nach neunjähriger Pause brachte der Künstler in diesem Jahr mit „Adjust Brightness“ einen Nachfolger auf den Weg.
Vom Selbstverständnis ein Jazz-Musiker war Bilals Musik von jeher experimenteller als die seiner Mitstreiter*innen aus der Neosoul-Szene. An sein neues Werk ging er konzeptuell heran. Es sollte elf Stücke enthalten und genau 38 Minuten und 38 Sekunden dauern.
Außerdem ging es Bilal darum, ein Gefühl zu erzeugen, dass warm und soulful klingt. Sich mit den Möglichkeiten künstlicher Intelligenz beschäftigend, hat Bilal deren vermeintliche Perfektion durch das Zulassen von Fehlern unterwandert. Eine wichtige Rolle spielt die Sprache. Bilals Songtexte sind nicht immer zu verstehen, zuweilen besteht der Gesang aus reinen Lauten ohne inhaltliche Bedeutung.
Der Song „Adjust Brightness“ – Helligkeit einstellen – lässt sich als Warnung verstehen. Tatsächlich überwiegen düstere Momente auf dem Album.
In „The Story“ rumpelt und stolpert das Schlagzeug vor sich hin, darüber tropft ein Bass wie zähflüssiger Teer, Keyboards lassen schwarze Eiskristalle wachsen, eine Rückkoppelung bricht kreischend herein, ein verstimmtes Klavier klimpert, undeutliche Fetzen einer Geräuschkulisse ertönen.
Wie in einer fibrigen Vision singt Bilal von einem Jungen und seiner aufgrund von Eifersucht gewaltsam endenden Beziehung. Dass diese Geschichte nicht ungewöhnlich ist, sondern allbekannt, betont Bilal gegen Ende, indem er lakonisch vorträgt: „Everybody, And everybody knows.“
Daran schließt mit „Tell Me“ ein ambivalentes Liebeslied an. Der Rhythmus klappert, die Bassdrum markiert den menschlichen Herzschlag, eine flüchtige Melodie wird von Gitarrenakkorden immer wieder weggeblasen. Das Text-Ich erklärt zunächst, es werde das Objekt seiner Begierde wie eine Beute jagen, um sich dann verletzlich zu zeigen: Es sei kein Monster, sondern nur ein Liebender, der geliebt werden will.
Auch Glen Earl Boothe stammt aus dem Umfeld des kalifornischen Rapstars Kendrick Lamar und hat ebenfalls an „To Pimp a Butterfly“ mitgewirkt. Unter dem Namen Knxwledge arbeitet der 36-Jährige als Produzent in Los Angeles. Zusammen mit Schlagzeuger und Sänger Anderson.Paak bildet er das Duo NxWorries. Acht Jahre nach ihrem Erstling haben die beiden im Sommer das zweite Album des Projekts „Why Lawd?“ herausgebracht.
Im Unterschied zum Debüt haben Knxwledge und Paak nun eine Reihe von Kolleg*innen dazugebeten, darunter den singenden Bassisten Thundercat, Sängerin H.E.R. sowie die Rapper Earl Sweatshirt und Snoop Dogg.
Aufgrund der Sample-basierenden Produktion von Knwledge ist den 19 Tracks eine gehörige Portion Nostalgie eingeschrieben: Gesangsharmonien treffen auf anschwellende Orgeln, wohlig wattierte Bässe und schlanke Gitarrenlicks legen die Grundlage für einen analogen und warmen Sound.
Da viele Lieder kurz gehalten sind und enden, bevor sie richtig angefangen haben, entsteht ein abwechslungsreicher Flow. Zwar geht es inhaltlich vor allem um verschiedene Stadien von Liebesbeziehungen aus einer vorwiegend männlichen Perspektive, dennoch bleibt die Stimmung locker bis humorvoll.
Beim Stück „Daydreaming“ bedienen sich die beiden an dem Beat und den Akkorden von „You’re Gonna Love It“ (1983) von Stanley Clarke und George Duke, einer Fusion-Ballade, deren kühle Softerotik in der Bearbeitung durch ein ausdrucksvolles Gitarrensolo derart gesteigert wird, dass die Bearbeitung haarscharf an einer Parodie vorbeischrammt.
„From Here“ wiederum lässt den Sweet Soul der späten 1960er Jahre aus Philadelphia samt Sitar und Falsettgesang wieder auferstehen. Spätestens wenn Snoop Dogg mit seinem bedeutungsvollen, gesprochenen Monolog einsetzt, stellt sich auch hier die Frage: Was ist ernst gemeint, was nur ein Spiel mit Klischees und Erwartungen? Denn das gilt für jede Art von Musik: Traditionen und Geschichte bleibt man immer verbunden, selbst wer versuchen sollte, diese zu verleugnen.
Ravyn Lenae: „Bird’s Eye“ (Atlantic/Warner)
Sy Smith: „Until We Meet Again“ (The Foreign Exchange Music/Psyko!)
Bilal: „Adjust Brightness“ (Bilal Music/Import)
NxWorries: „Why Lawd?“ (Stones Throw/PIAS)
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