: Der Sternenstaub ist abgerieselt
Wunder, Narzissmus, Seelenqual: Elke Schmitter erkundet in ihrem neuen Roman die Liebe und ihre Abgründe
Von Nina Apin
Wie lässt sich von der Liebe erzählen? In ihrem neuen Roman nähert sich die Berliner Autorin Elke Schmitter (die taz-Leser*innen nicht unbekannt sein dürfte) diesem großen Thema zunächst mit dem Blick einer Forschenden. Sie fragt: Welche Typen von Verliebten gibt es (die strahlenden Scheinwerfer, die brodelnden Glückstöpfe, die unentwegt Redenden – und Freundin F, die sich als vollkommen leidenschaftslos entpuppt). Welche Rolle spielt die „innere Chemiefabrik“, all die ausgeschütteten Endorphine und Dopamine – und was braucht es, damit aus zwei verliebten Menschen ein Paar wird, ein Ereignis, das Schmitter als „ontologisches Wunder“ ansieht.
Verschiedene Liebesanfänge spielt die Erzählerin durch, präsentiert wie soziologische Fallgeschichten: Da ist der Mann, mit dem sie beim Wildwasserkanufahren in Kalifornien in Seenot gerät und, zu zweit nackt in einen Schlafsackkokon gepresst, die drohende Lungenentzündung abwendet … doch bevor bei der Leserin der innere Liebesfilm ablaufen kann, schwenkt Schmitter zum nächsten „Fall“: eine Urlaubsbegegnung auf Madeira. Vietnamveteran John ist „ein freier, beinahe schwereloser Mann“, der in Alaska Häuser repariert und nachts manchmal schreiend aufwacht. Auch dieser Anfang wird nicht weitererzählt, statt dessen philosophische Exkurse.
Gerade als man sich fragt, wohin Schmitter will mit ihrer Typologie, die eher ein fußnotengesättigtes Durchstreifen der eigenen Vergangenheit ist, kommt es zur Partybegegnung mit einem „schmalen, unauffällig dunkel gekleideten Menschen“. Was sich nachfolgend ereignet, unter der anspielungsreichen Überschrift „Geschichte der H“, wendet die „Typologie“ zur Liebesgeschichte. Levin, eine „hoch bewusste Erscheinung“ mit Sommersprossen und rötlichen Locken trifft auf die Ich-Erzählerin und Künstlerin Helena.
Es beginnt harmlos: Man schreibt sich Mails, diskutiert beim Spaziergang ein Buch über Narzissmus (die Pointe erschließt sich erst später). Er trinkt Kaffee mit Hafermilch, sie von der Kuh. Vorsichtig betasten sich hier zwei urbane „Kopffüßler“ in ihrer zweiten Lebenshälfte. Schon zu Beginn der Idylle streut Schmitter einen Warnhinweis ein: „Ein […] Blick von mir zu ihm, in diesem kurzen Moment des Aufgewecktseins aus der Trance. Eine Art Vorsicht, ein Auftrag aus der Zukunft: Schau noch einmal hin. Das ist der Mann; ist das der Mann, dem du dich anvertrauen willst?“
Helena aber will. Es folgen unbeholfene körperliche Annäherungen im Wechsel mit intellektuellem Austausch, etwa über Sloterdijks Heraklit-Auslegung der vom Logos aufgehellten Seele und der Frage, was wohl Freud dazu gesagt hätte. Vielleicht ist es von Schmitter so gewollt, jedenfalls erfasst die Leserin bei diesen geistigen Höhenflügen eine gewisse Ungeduld: Kommt endlich zur Sache! Statt dessen aber erst mal: gegenseitiges Aufarbeiten des eigenen „Triebschicksals“ (beide sind psychoanalyseerfahren), verkorkste Rückzieher von seiner Seite, kommunikative Pannen, Versöhnung.
Und dann kommt eine Passage, die mitten hineinknallt in diesen bis dahin auf Abstand geschriebenen Roman: eine Vergewaltigung auf einer Reise nach Marokko, beschrieben bis ins Detail. „Von nun an war ich eine vergewaltigte Frau und war es auch nicht, ich muss mich für die zweite Version entschieden haben“, schreibt Helena und kommt zu dem Schluss, weniger traumatisiert zu sein als möglich. Und doch: Mit dieser Geschichte im Rücken liest sich, was folgt, anders: als die Annäherung zweier Versehrter, wobei die Ursache für Levins Versehrtheit im Dunkeln bleibt; sie zeigt sich nur in seinem Verhalten, das auch Helena ins Unglück reißt: eine Bemerkung über einen möglicherweise Verflossenen und aus dem feinsinnigen Buddhisten wird, ausgerechnet in einer Bettsituation, ein kalter Gegenspieler. Verzweifelt notiert sie: „Noch sitzen wir in derselben Schatulle, deren Wände dunkel geworden sind, der Sternenstaub ist abgerieselt.“
Elke Schmitter: „Alles, was ich über Liebe weiß, steht in diesem Buch“. C.H.Beck Verlag, München 2024, 351 Seiten, 26 Euro
Mit derselben sprachlichen Genauigkeit, mit der Schmitters zuvor den Zauber des Zueinanderfindens beschrieben hat, nimmt sie sich nun der Liebesqualen der jäh aus der Liebesbubble Gestoßenen an: Warum ist er so, was hätte ich wann (nicht) sagen sollen, was kann ich tun, damit es wieder wird wie zuvor?
Helena schreibt Briefe und schickt sie nicht ab. Geht zur Analytikerin und betrinkt sich mit Freunden. Nach zwei Monaten ein Treffen im Café, wo Levin sich als banaler Idiot entpuppt, von Schmitter wunderbar in wenigen Sätzen verdichtet: „Weißt du, das alles ist angesichts dessen, was in der Welt so los ist, vielleicht auch gar nicht so wichtig. So etwas kommt vor. Dass zwei Menschen sich nicht verstehen, dass es ein paarmal hin und her geht, bis man das feststellt.“
Während die Leserin spätestens an dieser Stelle fertig ist mit diesem toxischen Exemplar, klammert sich die Protagonistin an klinische Diagnosen (mal ist es Narzissmus, dann Autismus, schließlich bipolare Störung – oder doch ADHS?) und fällt in ein abgrundtiefes Seelenloch. Ihr Schmerz wird kontrastiert mit den „Briefen einer Leidenschaft“ der Pariser Salonnière Julie de Lespinasse aus dem 18. Jahrhundert.
Über Dutzende Seiten verfolgt man die Qual dieser ausgehungerten Seele, die kämpft, sich verrennt und entblößt – um am Ende wieder bei sich anzukommen. Ein nicht immer einfach zu lesendes, aber sprachlich wunderbares Buch, das noch länger im Kopf bleibt.
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