: Überall Gefühle von Beklemmung
Im Jüdischen Museum treffen Manuskripte und Zeichnungen aus dem Nachlass von Franz Kafka auf Werke zeitgenössischer Kunst. Einen soll sie ihre Vieldeutigkeit
Von Verena Harzer
Die Frau im roten Pullover scheint direkt in die Kamera zu blicken. Nur wer das Video „The Confessions of Roee Rosen“ im Jüdischen Museum Berlin länger betrachtet, merkt, dass der Blick in die Kamera ein indirekter ist. Die Frau liest einen hebräischen Text von einem Teleprompter ab.
Besser gesagt, sie liest die Übersetzung eines hebräischen Textes in lateinischen Buchstaben, denn die Frau spricht kein Hebräisch. Sie ist eine illegale Gastarbeiterin in Israel und der Künstler Roee Rosen lässt sie seine intime Lebensbeichte vorlesen. In einer Sprache, die sie nicht versteht, aus einem Leben, das sie nicht kennt.
In einem anderen Raum ist ein blau leuchtender Fernsehbildschirm zu sehen. In der Mitte der Farbfläche steht ein kleines, grob gepixeltes Super-Mario-Männchen auf einem hellgrünen Schild mit einem dunkelgrünem Fragezeichen. Der Künstler Cory Arcangel hat die digitalen Parameter eines Nintendo-Videospiels manipuliert. Das sonst springende und rennende Männchen bewegt sich nicht mehr. Es ist in einem blauen Pixelmeer gefangen.
Zwei künstlerische Arbeiten, die formal und inhaltlich kaum unterschiedlicher sein könnten. Und doch haben sie eines gemeinsam: Beide erschließen sich nicht auf den ersten Blick, sind mehrdeutig lesbar.
Genau wie das Werk des Schriftstellers Franz Kafka, sagt die Kuratorin Shelley Harten. Sie ist verantwortlich für die Ausstellung „Access Kafka“, die im Jüdischen Museum in Berlin zu sehen ist. Es ist die letzte große Ausstellung im Kafka-Jahr 2024. Vor 100 Jahren starb der weltberühmte österreichisch-tschechische Autor.
Harten hat dafür 30, zum Teil noch nie in Deutschland gezeigte Manuskripte und Zeichnungen aus Kafkas Nachlass mit zeitgenössischen Kunstwerken in den Dialog gebracht. Herausgekommen ist eine spannende und originelle Annäherung an Kafkas Werk. Nur was die Auswahl der Gegenwartskunst angeht, lässt die Ausstellung einen etwas ratlos zurück.
Kafkas Werk sei alles andere als leicht zugänglich, sagt Harten. Seine Schriften seien eben nicht eindeutig, sondern von Vielfalt geprägt. Eine Eigenschaft, die sie mit Werken der Gegenwartskunst teilen. Außerdem ziehe sich durch Kafkas Werk das Thema „des Zugangs und der Zugehörigkeit“: Überall stoßen Kafkas Protagonisten auf verschlossene Türen, Fenster oder unüberwindbare Schwellen. Ein Thema, das auch in unserer Gesellschaft allgegenwärtig sei, sagt Harten, mit dem sich viele bildende Künstler auseinandersetzen.
Die Ausstellung ist in fünf Kapitel unterteilt: Access Denied sowie Access Wort, Körper, Raum, Gesetz und Judentum. Jedem Kapitel sind ein Auszug aus Kafkas „Ein Hungerkünstler“, Manuskripte und Zeichnungen des Autors, eine Schautafel zu Kafkas Leben sowie Werke von zwei bis fünf zeitgenössischen Künstlern zugeordnet.
Es macht Spaß, sich durch die Ausstellung zu bewegen, sich mit Kafkas Werk und Leben auseinanderzusetzen und Bezüge zu den ausgestellten Kunstwerken herzustellen. Schon im Treppenhaus werden die Ausstellungsbesucher von Plakaten mit der vielversprechenden Aufschrift „Wer Künstler werden will, melde sich!“ empfangen. Ein Zitat aus Kafkas Romanfragment „Der Verschollene“. Beim Betreten der Ausstellung dann die Absage: Eine ganze Wand hat die Künstlerin Ceal Floyer mit den roten Schildern beklebt, die in den USA häufig in Schaufenstern hängen: „No positions available“, keine Stellen frei.
Der Künstler Guy Ben Ner hat sich in seiner Arbeit „House Hold“ gefangen hinter dem Holzgitter eines Kinderbettes gefilmt. Seine Versuche, sich aus der misslichen Lage zu befreien, werden immer grotesker. Dabei würde ein kräftiges Rütteln an den nicht gerade stabil wirkenden Holzstäben wohl genügen, um sich zu befreien.
Die Situation erinnert an eine Zeichnung Kafkas gleich zu Beginn der Ausstellung. Eine mit einfachen Strichen gezeichnete Figur, eingeschlossen von einem Zaun. Würde sie sich umdrehen, könnte sie sehen, dass hinter ihr eine große Lücke im Zaun klafft: der in sich selbst gefangene, moderne Mensch.
Und so geht es weiter, durch die Räume des Jüdischen Museums. Überall Kafka und tolle zeitgenössische Kunst. Überall verwehrte Zugänge und beklemmende Gefühle. Trotzdem macht sich irgendwann das Gefühl einer großen Lücke breit.
Denn was man in der gesamten Ausstellung vergeblich sucht, sind Bezüge zu den Zugehörigkeiten und Zugängen, die Millionen von Menschen auf dieser Welt gerade konkret verwehrt werden: Die Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten, auf dem afrikanischen Kontinent. Die Klimakatastrophe, die weltweite Massenmigration, die geopolitische Neuausrichtung der Weltordnung.
Nichts davon im Jüdischen Museum. Die Ausstellung plätschert harmlos im Fahrwasser des existenziell Gefühligen vor sich hin. Das ist alles schön und anregend – und hat am Ende doch den schalen Beigeschmack der Irrelevanz.
„Access Kafka“, Jüdisches Museum, bis 4. Mai 2025
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