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Archiv-Artikel

Nagels Proben

In der Rürup-Kommission saß Nagel auch: „Eine Verschwendung von Zeit. Davon bin ich geheilt“

AUS BERLIN BARBARA BOLLWAHN

Als er klein war, hatte er keine Wahl. Das Elternhaus, erst in Hameln, dann in Hannover, war protestantisch, zwei Großonkel und der Großvater waren Pastoren. Da gehörten Kirche und Gott zum Leben wie der Sandkasten zur Kindheit. Der Glaube an Gott war unerschütterlich. Als junger Mann begann Eckhard Nagel, Antworten auf große Fragen zu finden. Was ist der Mensch? Wer bin ich? Er studierte Medizin und merkte schnell, dass Physik, Biologie, Chemie ihm dabei nicht halfen. Deshalb studierte er parallel zur Medizin Philosophie, las Feuerbach, Hegel, Marx, beschäftigte sich mit Freud und der Psychoanalyse, lernte andere Weltanschauungen und Erklärungsmuster kennen. Mit schwer wiegenden Folgen: Plötzlich stellte er die Existenz Gottes infrage und ging auf Distanz zu dem, was ihm vorher Halt gegeben hatte. Nagels Glaube war auf eine erste Probe gestellt.

Eckhard Nagel sitzt, gut aussehend im grauen Anzug und schwarzen Pullover und mit kurz geschnittenen Haaren um die glänzende Halbglatze, im Restaurant eines Berliner Hotels und tut etwas, was er früher nicht getan hat. Er spricht über seinen Glauben. Als Prof. Dr. med. Dr. phil., als Leiter der Transplantationschirurgie im Klinikum Augsburg, als Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften in Bayreuth, als Vizevorsitzender des Nationalen Ethikrats spricht er normalerweise in der Öffentlichkeit nicht darüber. Aber jetzt, da er ein Ehrenamt innehat, bei dem er 100.000 Gläubige vertritt, denn so viele Teilnehmer werden zum Evangelischen Kirchentag erwartet, macht er aus der Privatsache eine öffentliche Angelegenheit. Nagel ist Präsident des 30. Evangelischen Kirchentages, der am Mittwoch in Hannover beginnt.

Damals, als Eckhard Nagel an der Existenz Gottes zweifelte, half ihm der Kirchentag von 1983, der ebenfalls in Hannover stattfand. „Das war ein Schlüsselerlebnis“, sagt er. „Da habe ich gemerkt, hier bin ich zu Hause.“ Er fand zu sich selbst, fand Menschen, die ihm verwandt waren, fand seine innere Orientierung wieder.

Nagel wirkt ruhig. Obwohl er ein Hochleistungsmediziner ist und jeden Tag ein Arbeitspensum bewältigt, das nach einem Karrieristen, einem Streber klingt. Die Kurzfassung des Lebenslaufs des 44-Jährigen umfasst allein 18 Seiten. Medizinstudium in Hannover, in den USA, in England, Frankreich. Approbation, Promotion als Arzt und Philosoph, Facharzt, Oberarzt, C4-Professur. Seit 1995 hat er so gut wie jedes Jahr ein Buch geschrieben. Über Transplantation, chirurgische Therapie, das Gesundheitswesen, das Menschenbild. Er hat dutzende Stellungnahmen für die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer verfasst, für den Nationalen Ethikrat der Bundesregierung, für die von der Bundesregierung eingesetzte Rürup-Kommission zur Finanzierung der Sozialversicherungen, in der er Mitglied war. Weil für Nagel das ärztliche Handeln nicht mit dem Tod eines Patienten endet, erfand er vor knapp zehn Jahren einen Terminus technicus und verfasste Richtlinien dazu: die ärztliche Sterbebegleitung. Nur die Wochenenden und die Urlaube gehören seiner Frau, einer Ärztin und Psychotherapeutin, und seinen drei Töchtern, mit denen er in Augsburg lebt. Ansonsten ist Nagels Leben minutiös geplant.

Nagel sagt, dass er großes Glück gehabt habe, weil er schon als Kind wusste, was er werden wollte. Mit elf Jahren wurde er am Blinddarm operiert. Er war fasziniert von dem Chirurgen und erlebte das Krankenhaus als „einen Ort, wo man gut sein kann“. So kam sein Berufswunsch zustande. Später wurde der Chirurg, der ihn operierte, sein Schwiegervater. Die Wege des Herrn sind manchmal wirklich unergründlich.

Nagel spricht zwar offen über seinen Glauben. Aber er ist kein Verkünder der Frohen Botschaft. Er klingt wie jemand, der weiß, wovon er redet. Er erzählt von zwei Schicksalsschlägen in seinem Leben, die er auch dank seines Glaubens überwunden habe. Der eine war der Tod eines der Pioniere der Transplantationsmedizin, dessen Referent er war und zu dem er ein sehr persönliches Verhältnis hatte. Nachdem dieser bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, war für Nagel „nichts mehr stabil“.

Über den zweiten Verlust zu reden fällt ihm schwerer. Er wartet einige Sekunden, bis seine Unterlippe nicht mehr zittert. Eckhard Nagel und seine Frau haben zwei Kinder verloren. Unter nicht geklärten Umständen. Sie starben im Alter von wenigen Monaten am plötzlichen Kindstod. Er erzählt, dass er von der Verzweiflung bis zur Depression alle Stufen der Trauerarbeit durchlaufen hat, die Freud, über den er promoviert hat, beschrieb.

Wichtig waren für ihn in dieser Zeit Menschen, „die einen stützen und aushalten“. Und der Glaube. „Gott weint mit mir, wenn mir was Schlimmes widerfährt. Gott trauert mit einem.“ Nagel verschränkt die Arme auf dem Tisch und wechselt das Thema. Er erzählt von einem vier Wochen alten herzkranken Kind, das er operiert hat. „Vor zehn Jahren war das undenkbar.“ Jetzt wirkt er wieder begeistert.

Nagel fasst den Begriff des fach- und berufsübergreifenden Denkens so weit, dass für ihn auch die Politik zur Medizin gehört. Deshalb seine Mitgliedschaft im Ethikrat und vorher in der Rürup-Kommission. Hat er keine Angst, von der Politik instrumentalisiert zu werden? Er lacht. Der Ethikrat sei ein Expertengremium, das nicht manipulierbar ist. „Was man aus den Ergebnissen macht, ist eine andere Frage“, sagt er diplomatisch. Über die Rürup-Kommission redet er weniger gern. „Ach, die Rürup-Kommission“, sagt er mit einem Seufzer und lacht wieder. Er wägt die nächsten Worte einige Sekunden lang ab. „Der Bericht ist gar nicht so schlecht“, sagt er schließlich. „Wenn ihn jemand gelesen hätte.“ Aber die politische Umsetzung entspreche nicht dem Aufwand, der betrieben wurde. „Eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen. Davon bin ich geheilt.“

Nagel ist Mitglied einer Partei. Welcher, das verrät er nicht. Der Präsident des Kirchentags müsse alle vertreten, sagt er. Entsprechend ausgewogen redet er. Er lobt sowohl „die politischen Entwürfe“ des SPD-Vordenkers Erhard Eppler als auch die des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker von der CDU, die beide auch Präsidenten des Evangelischen Kirchentags waren. Er zitiert den ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau von der SPD, der einmal gesagt hat, dass Religion nicht bloße Privatsache sein dürfe. Aber er zitiert auch einen Satz Joseph Ratzingers, des neuen Pontifex Benedikt XVI., den er „stimmig“ nennt: „Wer glaubt, ist nie allein.“ Nagel bittet charmant, aber so bestimmt um Verständnis, als gehe es um die ärztliche Schweigepflicht. „Über die Partei können wir gerne nach dem Kirchenamt reden.“

Nach dem plötzlichen Tod seiner zwei Kinder half Nagel sein Glaube: „Gott weint mit mir“

Zur letzten Sitzung des Ethikrats vor dem Kirchentag kommt Nagel eine Stunde zu spät. Er musste noch eine Sache gerade rücken: Er hatte einer Nachrichtenagentur gesagt, dass man angesichts der Altersentwicklung künftig über andere Geldquellen als die Kirchensteuer nachdenken müsse. Verkürzt hieß es dann, der Präsident des Kirchentags habe die Abschaffung der Kirchensteuer gefordert. „Ich musste erst mal die Debatte beruhigen“, sagt er mit gut gelauntem Lachen und eilt in Jeans und hellgrauem Jackett in die Sitzung, wo er wenig später davon spricht, dass in der Stammzellenforschung „eine pragmatische Lösung notwendig ist“.

Für Nagel ist ein Embryo menschliches Leben, egal wo die Vereinigung von Ei und Samenzelle stattfindet, da hat er eine klare Position. Aber die ethischen Grenzen nennt er „sehr differenziert“, eine eindeutige Antwort gibt es für ihn nicht. „Im Kontext wissenschaftlicher Entwicklung wird sich das neu reflektieren.“ Technologische Entwicklungen würden oft aus schlichter Sorge oder Unkenntnis abgelehnt. Diese Ablehnung will Nagel auf dem Kirchentag aufweichen. Da ist er ein Pragmatiker.

Seine Kollegen im 25-köpfigen Ethikrat schätzen ihn: Der ehemalige SPD-Chef Hans-Jochen Vogel nennt ihn „einen erheblichen Gewinn“. Weil auch für Vogel gilt, dass Glaube keine Privatsache ist, findet er es gut, dass Nagels Glaube „im Inhalt dessen, was er sagt, zu spüren ist“. Parteizugehörigkeit spiele da keine Rolle. Im Übrigen sei er gar nicht im Bilde, welcher Partei Nagel angehört. Für den Ostberliner Molekularbiologen Jens Reich gehört Nagel zu den Medizinern, „die für eine humane Medizin stehen und nicht für einen globalisierten, enthemmten Fortschrittsoptimismus“.

In dieser Woche wird Nagel nicht im Operationssaal stehen und in keiner Kommission sitzen. Er freut sich auf den Kirchentag. Auf die Jugendlichen, die 50.000 ehrenamtlichen Helfer, darauf, „mit den Menschen ins Gespräch zu kommen“. Anders als bei seiner Arbeit in der Klinik muss er in Hannover auch nicht auf seine Familie verzichten. Er wird sogar zusammen mit seiner ältesten Tochter und seiner Mutter, einer Heilpraktikerin, auf einem Podium über die verschiedenen Lebensformen der Generationen diskutieren.

Die Frage „Wer bin ich?“, die sich Eckhard Nagel vor etwa zwanzig Jahren gestellt hat, kann er mittlerweile beantworten. „Es gibt keine endgültige Antwort.“ Viel wichtiger ist es für ihn, in Bewegung zu bleiben.