: Robinson im deutschen Wald
Mythen als Maskenspiel: der israelische, derzeit in Hamburg lehrende Videokünstler Omer Fast und sein neuer Spielfilm „Abendland“
Von Wilfried Hippen
In diesem Film hat Angela Merkel die Hauptrolle: Ihr Gesicht ist in fast jeder Einstellung zu sehen – aber diese Angela Merkel ist durchweg eine Maske. Zuerst begegnen wir dieser „Merkel“ bei einer Protestaktion, Forstarbeiter sollen in einem Wald daran gehindert werden, Bäume zu fällen. Die Aktivist*innen tragen Masken, und irgendwann läuft eine von ihnen vor den knüppelnden – und ihrerseits maskierten – Polizist*innen davon. Das Altkanzlerinnengesicht vor dem eigenen, läuft sie tief hinein in den deutschen Wald und fällt in eine Schlucht. Am Bein verletzt, trifft sie einen Jugendlichen, der wie ein Dschungelbewohner gekleidet ist – und ebenfalls eine Maske trägt.
Bis zu diesem Moment scheint der Film in einer uns vertrauten, realen Welt zu spielen, aber nun wird alles zunehmend merkwürdig. Von den identitätslosen Forstarbeitern abgesehen, trägt im Rest des Films jeder und jede eine Maske, unsere Protagonistin nimmt sie auch dann nicht ab, wenn sie allein ist und sich unbeobachtet fühlen kann. Mit dem Sturz in den Abgrund ist sie in einer Parallelwelt gelandet, in welcher der deutsche Wald derart unergründlich tief ist, dass darin eine Gruppe von Utopist*innen jahrelang unentdeckt bleiben konnte in ihren Baumhäusern.
„Merkel“ ist in dieser Welt gestrandet wie Robinson Crusoe auf der einsamen Insel. Tatsächlich war Daniel Defoes Abenteuerroman von 1719 eine Inspirationsquelle für Omer Fast und diesen Film. Der israelische Videokünstler, derzeit Professor für Film an der Hamburger Hochschule für bildende Künste, spielt zudem mit dem Mythos des deutschen Waldes, der real ja längst zu einer Kulturlandschaft ohne jedes Geheimnis umgestaltet ist. Wenn Merkel auf 24 Aussteiger*innen trifft, die in Baumhäusern eine utopische Gesellschaft entwickeln wollen, dann ist das tatsächlich eine Anspielung auf den Roman „Utopia“ von Thomas Morus (1516): Er beschreibt eine freiheitliche Gesellschaft ohne Ausbeutung und Mangel, die sich auf einer unentdeckten Insel jenseits des Äquators entwickelt haben soll.
Nur unter großen Vorbehalten wird die verletzte Fremde in die Untergrund-Kommune aufgenommen. Zum einen hat sie eine Gegenspielerin: Eine der Frauen in der Gruppe trägt die gleiche Maske und wird auch noch „Angie“ genannt. Außerdem wird die nun hinzugekommene „Merkel“ verdächtigt, entweder eine Spionin zu sein – oder mit „dem Virus“ infiziert. Wenn alle Menschen ständig Masken tragen, ist dies auch ein Kommentar dazu, wie die kollektive Erfahrung der Coronapandemie die (deutsche) Gesellschaft verändert hat.
Mit so einem Apparat an Inspirationsquellen ist „Abendland“ einerseits eine Kopfgeburt. Filmemacher Omer Fast versucht auch gar nicht, dies zu kaschieren. Ihn interessiert weder eine konventionelle Dramaturgie noch eine Entwicklung seiner Figuren. Es geht hier nicht um deren Identitäten, sie werden ausschließlich durch die Masken definiert, die sie tragen und die sie sogar unter sich austauschen. Diese Gesichtslosigkeit ist dann auch das eigentliche Thema: Für Omer Fast besteht „der eigentliche Schrecken“ darin, was ist, „wenn sich herausstellt, dass die Maske das wahre Gesicht ist, wenn das Abnehmen der Maske nicht mehr möglich ist oder wenn sich am Ende nichts darunter befindet“.
Mit seiner flachen, betont kunstlosen Inszenierung verweigert der 52-Jährige das Kinoerlebnis durch große Bilder oder eine originelle Stilisierung. „Abendland“ ist ein surreales Experiment, das dadurch fasziniert, dass hier einer sein Publikum bis zur letzten Einstellung verwirrt – und wie virtuos ihm das gelingt.
„Abendland“. Regie Omer Fast, mit Stephanie Amarell, Marie Tragousti, Sebastian Schneider u. a. Deutschland 2024, 115 Minuten. Der Film startet heute im Abaton-Kino, Hamburg, und dem Kino in der Pumpe, Kiel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen