kritisch gesehen: Zauberklang aus Pappkarton
In Braunschweig begegnen Ulrich Ellers Klangsituationen den Gemälden Alter Meister
Die Klangkunst, also das Arbeiten mit akustischen Phänomenen im Raum, ist eine rare Disziplin, im Ausstellungsbetrieb wie auch als Studiengang an Kunsthochschulen. In Norddeutschland wird er wohl einzig an der Hochschule für bildende Künste Braunschweig gepflegt, im Rahmen der Freien Kunst. Die Professur hatte zwischen 2004 und 2020 Ulrich Eller inne. Nach drei Jahren Vakanz folgte Jens Brand.
Ulrich Eller ist Pionier wie Koryphäe auf seinem Gebiet. Er hatte schon 1987 an der Documenta 8 in Kassel teilgenommen. Ausstellungen bestreitet der 71-Jährige weltweit, in Toronto, Tokio, Istanbul, in der Schweiz und selbstverständlich auch in Deutschland. Derzeit begegnen seine Klangsituationen den Alten Meistern im Herzog-Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig.
Und man lernt: Noch bevor überhaupt ein Ton oder Geräusch hörbar ist, wird gezeichnet, gemalt, fotografiert. Ganz Pädagoge, gliedert Eller seinen Auftritt in drei Schritte, zeigt erst assoziative Notationssysteme. Da wäre etwa die große, 16-teilige Collage „Silbenpartitur“: kleine lineare Ausschnitte in hellen Papierbögen geben Textfragmente und Silben darunterliegender Blätter frei. Das lässt an die fünf Linien gängiger Notenblätter denken – ohne Noten.
Kleine Lautsprecher inmonströsen Sitzinseln
Erste Hörproben liefert eine Wand aus Pappkartons, partiell perforiert mit Lochbildern alter Lautsprecher, aus denen wechselnde Alltagsgeräusche dringen: städtisches Getriebe, Gespräche, eine Straßenbahn. Schritt zwei sind ortsbezogene Interventionen in der Gemäldegalerie, erstes Obergeschoss, sowie in der Sammlung Kunsthandwerk, ein Geschoss höher. Zwischen den Heroen abendländischer Malerei sind nun dezente, lichte Klänge zu vernehmen, wie einzeln angeschlagene Klaviersaiten in zeitlich getragenem Abstand.
Das ist geheimnisvoll, da auch die Quellen nicht sofort sichtbar sind – kleine Lautsprecher in den monströs gepolsterten Sitzinseln der Raummitten. Im letzten Saal, bis dato dem Blick verborgen durch eine Querwand mit Rembrandts großem Familienbild, steht Ellers „Himmelsleiter“ als rohes Stahlgestell, bestückt mit vielen kleinen Lautsprechern. In diesem ganz in Rot gehaltenen Raum, zwischen Rubens’Judith, die gerade Holofernes enthauptet, und einem edlen Herrenbildnis van Dycks, verdichten sich die Einzelklänge in deutlich gesteigerter Frequenz, nicht dramatisch, sondern zu einem kleinen abstrakten Konzert wie tropfendes Wasser.
Ausstellung „Töne. Klänge. Objekte“. Herzog-Anton-Ulrich-Museum Braunschweig. Bis 16. 3.
Die Fayencen und das Fürstenbergporzellan der herzoglichen Sammlung, einen Stock höher, konfrontiert Eller mit weißen Einkaufstüten, oben auf die hohen Vitrinenschränke gestellt. Hier schwillt nun rauschendes Wasser an, bindet zwei Räume mit akustischem, ästhetischem und situativem Witz zusammen. Ganz magisch kommt die Arbeit „Über Stille“ in einem dunklen Kabinett daher. Unter sechs Glashauben liegen sechs kleine Haufen Daunen und Federn auf je einem offenen Lautsprecher. Sechs nicht hörbare, nicht synchrone Stimmen versetzen die Daunen in minimale Bewegung: Klang wird zu Kinetik, einzelne Federn schweben sachte aus ihren Haufen heraus.
Allerdings: Dergestalt sensibilisiert für die feinen Klänge, stören umso mehr die nervig laut in ihre Schlösser fallenden Raumtüren sowie das notorische Piepsen der Abstandkontrollen vor den Meisterwerken. Also nichts wie hinaus zur Freiluftarbeit, Ellers drittem Schritt: Hinter dem Haus mischen sich elektronische Klänge, grünes Licht zur Dämmerung und die belebte Parkkulisse zu somnambulem Rauschen. Bettina Maria Brosowsky
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