: Flamingos und Asphalt
Auf dem Fernradweg Eurovelo 8 kann man von Athen bis Cádiz die Mittelmeerküste erkunden. Unsere Autorin ist ein paar Etappen durch Südfrankreich geradelt – und hat dabei Skurriles und Köstliches entdeckt
Aus Südfrankreich Ulrike Wiebrecht
Unter mir ein Fahrrad, links und rechts Wasser soweit das Auge reicht. Zwischen Sumpflandschaften und ehemaligen Salinen überquere ich eine Insel mit mediterranem Buschwerk und Kiefern, die der Wind in die Knie gezwungen hat. Ein einmaliges Naturschutzgebiet – und noch immer Heimat vieler wilder Flamingos, die sich jetzt in der Abendsonne tummeln.
So fühlt es sich an, auf dem Eurovelo 8 unterwegs zu sein. Vor mehr als einem Jahrzehnt ins Leben gerufen, schlängelt sich der Fernradweg auf 7.350 Kilometern entlang der europäischen Mittelmeerküste und durch Norditalien, beinahe nonstop von Cádiz bis Athen. Hinzu kommen Abschnitte in der Türkei und Zypern. Theoretisch eine tolle Idee. Und praktisch?
Das will ich auf dem französischen Abschnitt testen, der auch den Namen La Méditerranée à vélo trägt. Auf der Website wird die 850 Kilometer lange Strecke genau beschrieben, mit Angaben zur Beschaffenheit der Wege und GPS-Tracks zum Herunterladen. Insgesamt fünfzehn Etappen sind es, mit 30 bis 105 Kilometern, die zu 90 Prozent ausgeschildert sein sollen. Hört sich soweit gut an. Die Umsetzung hat allerdings ihre Tücken, und das beginnt schon mit dem Transport des Fahrrads. In den meisten französischen Hochgeschwindigkeitszügen müsste ich es auseinandernehmen. „Sie sollten sich besser vor Ort eins leihen“, rät man mir beim Französischen Tourismusverband. Aber zwei Wochen ein E-Bike leihen? Das geht ins Geld. Und vor allem: Wie kommt es am Ende wieder zurück?
Ich begnüge mich also mit einer Teilstrecke. Und zwar mit einer, die möglichst nah am Meer verläuft. Mitunter schlägt der Eurovelo 8 nämlich weite Bögen durchs Hinterland, klettert in den Alpen der Haute Provence fast bis auf 1.000 Meter hinauf. Neben dem Abschnitt zwischen Nizza und Cannes, wo man ganz bequem an der Küste entlangradeln kann, finden sich mittelmeernahe Etappen vor allem in der Occitanie, also unmittelbar nördlich der spanischen Grenze. Dort starte ich Anfang Oktober. In Sète, einem sympathischen Hafenstädtchen südwestlich von Montpellier, das gut mit dem Zug erreichbar ist. Das Meer ist hier überall präsent: In Form von Kanälen schwappt es mitten durch die Stadt. Lokale am Wasser laden zu Austern, Muscheln und Goldbrassen ein. Davor Fischkutter und Ausflugsdampfer, im Hintergrund altehrwürdige Wohnpaläste, an denen die Zeit gekratzt hat. Schön anzusehen, aber kein Bling-Bling wie an der Côte d’Azur.
Im Fahrradverleih macht Monsieur schnell den Vertrag fertig, übergibt mir mein E-Bike, ein Ladegerät, zwei schwere Schlösser – oder wollen Sie noch ein drittes? – und Flickzeug einschließlich zweier Schläuche. Dann rolle ich los, raus aus Sète, hinein in eine Dünenlandschaft. Rechts von mir zieht sich hinter den spärlich bewachsenen Sandhügeln die 18 Kilometer lange Lagune des Bassin des Thau, links liegt bleischwer das Meer, bedrohlich wie der dunkelgraue Himmel. Als könnte sich jederzeit tiefsitzender Groll in Form eines Wolkenbruchs entladen. Ich bekomme zum Glück nur ein paar Tropfen ab.
Nach eineinhalb Stunden erreiche ich Agde. Mitten durch das Städtchen fließt der breite, träge Hérault, an seinem Ufer reihen sich schwimmende Restaurants aneinander – im Mare Nostrum bekomme ich eine köstliche Fischsuppe mit viel Rouille, geriebenem Käse und Croutons. Ebenfalls im Zentrum steht die quadratische, düstere Kathedrale aus dem frühen Mittelalter, und gleich daneben hat man versucht, das historische Zentrum mit Galerien zu beleben.
Eine von ihnen gehört der Schmuckkünstlerin Géraldine Luttenbacher. Ihre Ringe, Ketten und Armbänder sind tatsächlich filigrane Kunstwerke, die weit über das Dekorative hinausgehen, sie hat bereits in Paris ausgestellt und diverse Preise gewonnen. Was hat sie ausgerechnet nach Agde verschlagen? „Hier wurde mir das Atelier angeboten. Außerdem hat mich der Charme des Städtchens überzeugt“, erzählt Luttenbacher. „Doch leider ist es abends ein bisschen tot.“ Deshalb wohnt sie lieber in Sète und pendelt mit dem Zug. Die Betreiber meines Hotels fühlen sich dagegen sehr wohl in Agde. Wie viele andere sind sie aus dem Norden Frankreichs in die Occitanie gezogen und dankbar für das angenehme Klima im Süden.
Bevor es am folgenden Tag weitergeht, sehe ich mir noch das Château Laurens auf der anderen Seite des Flusses an. Nie würde man in dieser bodenständigen Gegend etwas so Verrücktes vermuten: Inmitten gepflegter Parklandschaft hat im Jahr 1900 ein reicher Spinner versucht, seine Reiseeindrücke aus vielen Ländern in einer Mischung aus ägyptischen und römischen Tempeln mit Jugendstilelementen einzufangen. Die skurrilen Bilder wirken noch eine ganze Weile nach, als ich wieder auf dem Rad sitze.
Richtung Béziers ist die Piste plötzlich wegen Straßenarbeiten abgesperrt. Die Umleitung auf stark befahrener Straße wäre ein Albtraum, doch einer der Arbeiter hat Mitleid und öffnet mir die Absperrungen, und so radele ich durch Feuchtwiesen und hohe Schilfgürtel zum Canal du Midi, der fortan mein Begleiter ist. Das visionäre Projekt aus dem 17. Jahrhundert verbindet Toulouse mit dem Mittelmeer, heute ist es ein Lieblingsziel der Hausbootfahrer. Unzählige Freizeitkapitäne schippern gemächlich auf dem Wasser und grüßen mich vom Deck ihrer stolzen Kähne.
Nach einer Kaffeepause erreiche ich Béziers, das sich schon von Weitem mit seiner festungsartigen, auf einem Hügel gelegenen Kathedrale ankündigt. Das Zentrum ist ganz lebendig und ich frage mich, wie es wäre, im Hotel La Prison im ehemaligen Stadtgefängnis zu übernachten? Aber meine Energie reicht noch locker für weitere 15 Kilometer. Vorbei am touristischen Highlight der Region – der Schleusentreppe von Fonséranes, auf der Boote auf bis zu neun Stufen um 21 Meter angehoben werden – geht es weiter durch unscheinbare Dörfer. Colombiers, Poilhes, Capestang – eins archaischer als das andere.
Im letztgenannten suche ich mir schließlich ein Nachtquartier und finde ein kleines, gemütliches Zimmer im Coté Nuit. Der freundliche Besitzer stellt mein Fahrrad im Hausflur unter und auch für seine Restaurantempfehlung bin ich dankbar. Im Vauban esse ich ein raffiniertes Seeteufelcurry auf Lauchrisotto.
Am nächsten Morgen begrüßt mich strahlender Sonnenschein. Das Wasser des Canal du Midi glitzert wie Tausende Silbertaler, mein Blick schweift über Weinreben, Wiesen und kleine Pinienhaine. Alles sehr beschaulich, allerdings begleitet von heftigem Wind. Ich muss ordentlich strampeln und mehrmals nach dem Weg suchen, bis ich mittags einigermaßen erschöpft in Narbonne ankomme. Gerade herrscht buntes Markttreiben, ein paar Tomaten kullern mir fast unter die Räder.
Narbonne ist wieder eine Stadt an einem Kanal, dem Canal de la Robine. Und wieder begegnet mir mittelalterliche Architektur: die Kathedrale und der Bischofspalast, monumentale Bastionen des Glaubens, die einen noch heute einschüchtern. Wie müssen sie erst auf Menschen früherer Jahrhunderte gewirkt haben, frage ich mich, während ich im Blue Café eine Portion Moules frites – Miesmuscheln mit hausgemachten Pommes – zu mir nehme.
Danach wird es erneut einsam, in der riesigen Seenregion des Étang de Bages-Sigean. Bald bewege ich mich nur noch auf einem schmalen Streifen, durch die eingangs beschriebene Landschaft. Die Salinen, die Kiefern, die Flamingos – ich komme aus dem Staunen nicht mehr raus.
Dann der Kontrast. Am Horizont tauchen hässliche Fabriktürme und die Reste einer Ölraffinerie auf. Auch wenn sich das Hafendorf Port-a-Nouvelle mit seinen 13 Kilometer langen Stränden als familienfreundlicher Badeort verkauft, wirkt er auf mich wie von allen guten Geistern verlassen. Zumal die meisten Läden und Lokale jetzt in der Nebensaison geschlossen sind. Immerhin sehe ich zum ersten Mal seit zwei Tagen wieder das Meer – und komme noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit im kleinen Hôtel du Port unter. Einfache Zimmer, das Restaurant eine Mischung aus Fake-Marmor und maritimen Dekoobjekten an der Grenze zum Kitsch. Aber der Wirt schließt mein Rad fürsorglich in seiner Garage ein und am Tagesmenü mit fantastischer Dorade könnte sich so manches gehobene Restaurant ein Beispiel nehmen.
Der Weg nach Leucate ist, wie ich höre, kaum befahrbar, also starte ich für meine letzte Etappe mit einer kurzen Bahnfahrt – in französischen Regionalbahnen ist die Fahrradmitnahme anders als im TGV völlig unkompliziert und kostenlos. Nach Port-la-Nouvelle ist Leucate geradezu ein Bilderbuchdorf. Pastellfarbene Häuser, Cafés, und an der zentralen Place de la République huldigt die Statue einer Frau mit wehendem Mantel und triumphaler Geste der couragierten Françoise de Cezelli, die 1590 bei einem Angriff der Spanier ihren gefangengehaltenen Mann opferte, um die Stadt zu retten.
Unten am Meer geht es weniger heroisch zu. Von nun an reihen sich am Radweg moderne, mehr oder weniger gesichtslose Feriensiedlungen aneinander. Leucate Plage, Le Barcarès, Saint Cyprien – im Hochsommer tobt hier der Massentourismus, doch jetzt wirkt alles nur noch überdimensioniert. Immerhin rollt es sich vorzüglich auf dem weitgehend asphaltierten, gut ausgeschilderten Eurovelo 8. Viel eher als gedacht erreiche ich Argelès-sur-Mer, die letzte Station, bevor der Weg hinauf in die Pyrenäen und nach Spanien geht.
So habe ich noch genug Zeit, um bei Café au lait und Brioche den Blick auf weite, menschenleere Sandstrände, das Meer und die Berge im Hintergrund zu genießen. Auf der zweistündigen Zugfahrt nach Sète, wo ich mein Fahrrad wieder abgebe, lasse ich die zurückgelegten Etappen an mir vorbeiziehen. Es hätten ruhig ein paar mehr sein können, denke ich. Und beschließe, irgendwann wiederzukommen und auf dem Mittelmeerradweg weiterzuradeln.
Losradeln? Alle Infos gibt es auf der offiziellen Webseite des Méditerranée à vélo: www.lamediterraneeavelo.com, das gesamte Eurovelo-Streckennetz findet sich auf de.eurovelo.com.
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