: Herzen in roter Erde
Kein Tennisturnier bedeutet dem Brasilianer Gustavo Kuerten mehr als die French Open, die er dreimal gewonnen hat. Doch nach langer Verletzungspause verfolgt er diesmal andere Ziele
AUS PARIS DORIS HENKEL
Als er vor vier Jahren den letzten seiner drei Titel gewonnen hatte, segelte ein Strohhut von der Ehrentribüne auf den Court Central. Normalerweise sind die Herrschaften auf den besten Plätzen nicht so freigiebig, aber was ist hier schon normal, wenn der Brasilianer Gustavo Kuerten, genannt „Guga“, spielt? Es sind ja nicht nur der Hut oder jene Herzen, die er damals mit dem Schläger in den roten Sand malte. Dieses Turnier steckt voller Bilder und Erinnerungen; für Kuerten selbst und alle, die ihn dabei jemals beobachtet haben.
Manchmal entsteht so ein Band der Zusammengehörigkeit zwischen einem Spieler und dem Ort seiner größten Erfolge; das war so mit Becker und Sampras in Wimbledon, mit Agassi bei den US Open. Doch bei keinem war je so viel Gefühl im Spiel wie bei Kuerten im Stade Roland Garros. Seit er als unbeschwerter großer Junge mit wilden Locken anno 97 seinen ersten Titel gewann, haben ihn die Pariser adoptiert, und über diese ungewöhnlich enge Verbindung staunt er selbst manchmal noch. „Das ist ein sehr starkes Gefühl, und es kommt mir so vor, als wachse es immer mehr. Jedes Mal, wenn ich hier ankomme, bin ich überrascht, wie viele Leute sich für mich interessieren“. Warum das so ist? „Vielleicht liegt es daran, dass sie gesehen haben, wie ich angefangen habe und wie ich dann groß geworden bin. Hier habe ich das beste Tennis meines Lebens gespielt, und das müssen sie gespürt haben.“
Die drei Titel (1997, 2000 und 2001) sind ihm lieb und teuer wie ein Schatz. Um nichts in der Welt würde er einen davon tauschen für einen Sieg in Melbourne, Wimbledon oder New York, wo er selbst zu jenen Zeiten, da er die Nummer eins des Tennis war (2000/2001), nie weiter als bis ins Viertelfinale gekommen war. Aber zurzeit sind seine Vorstellungen ohnehin bescheidener. Nachdem er im September vergangenen Jahres zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren einen Eingriff über sich ergehen lassen musste, bei dem Knochensplitter in der rechten Hüfte entfernt wurden, geht es ihm weniger um Punkte als um Erkenntnisse. Beim ATP-Turnier in Valencia Anfang April, dem ersten Auftritt nach mehr als sechs Monaten Pause, gewann er zwar das erste Spiel, aber fast jeder Schritt tat noch höllisch weh, und er fühlte sich kaum imstande, dem Tempo der jungen Konkurrenten zu folgen. Beim zweiten Versuch in Monte Carlo eine Woche später verlor er zwar gleich in Runde eins, ging aber dennoch zufrieden vom Platz, weil der Körper nicht mehr mit schmerzhaften Signalen protestierte.
Danach spielte er in Rom und Hamburg, heute will er in Paris in der ersten Runde gegen den Spanier David Sanchez den nächsten Schritt machen. Aber bei aller Liebe zu den French Open – mehr als ein Test, sagt er, könne auch das beste aller Turniere kaum sein. In diesen und in den kommenden Wochen will er herausfinden, was er sich und der reparierten Hüfte noch zumuten kann. „Ich muss mir Zeit geben“, sagt Kuerten, „vielleicht noch ein halbes Jahr.“ Danach werde er sich entscheiden, wie und ob es mit der Karriere weitergehen soll.
Bei all den vertrauten Menschen in Paris – einer fehlt in diesem Jahr. Im März hat er sich von Coach Larri Passos getrennt, mit dem ihn in 16 gemeinsamen Jahren ein Verhältnis wie zu einem Vater verband. Er sagt, Passos’ Einfluss werde immer in seinem Stil und in seiner Persönlichkeit präsent sein, aber er habe sich für diese Trennung entschieden, um endlich auf eigenen Füßen zu stehen. Mit 28 Jahren ist es dazu vermutlich an der Zeit.
Vor einem Jahr besiegte Gustavo Kuerten in der dritten Runde in Paris die Nummer eins der Welt, Roger Federer, und schaffte es schließlich trotz Schmerzen bis ins Viertelfinale. Ist ihm an diesem Ort, der ihm offensichtlich magische Kräfte gibt, nicht immer alles zuzutrauen? Kuerten sagt: „Hier musst du stark sein, darfst niemals aufgeben. An deine Chance glauben, daran glauben, Geduld haben, daran glauben. Und kämpfen. Wenn du den Platz hinterher verlässt, bist du schmutzig, bist über und über vom roten Sand bedeckt. Hast alles gegeben und hast dich selbst besiegt. Bist völlig fertig, aber alles ist gut.“ Noch irgendwelche Fragen, warum Hüte fliegen, wenn dieser Mann spielt?