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Wenn die Sprache ins Exil geht

„Der Absprung“ von Maria Stepanova – gelingt es, sich im Roman von Russland zu befreien?

Von Philine Bickhardt

Was nach einer unspektakulären, gar ermüdenden Reise im Sommer 2023 klingt, entfaltet sich – gleich einem Märchen – in magische Bilder. Die Schriftstellerin M. – hier hat sich die Autorin Maria Stepanova mit dem Anfangsbuchstaben ihres Vornamens eingeschrieben – befindet sich seit eineinhalb Jahren im Berliner Exil. Die Bahnhofsbeschreibung verrät sofort, dass die Reise ihren Anfangspunkt am großen, mehrgeschossigen, wuseligen Berliner Hauptbahnhof nimmt.

Trotz des Krieges wächst das Gras im Sommer 2023 weiter, wie es im ersten Satz des Romans heißt, das Leben geht weiter. Das kämpft sich immer wieder durch die Bodendecke, trotz der toten Körper an deren Oberfläche. Man versteht schnell, es geht um die russische Invasion und den russisch-ukrainischen Krieg, ohne dass im Buch die Ukraine und Russland namentlich genannt würden. Immer wieder treten die „Landsleute“ auf, die die „Nachbarn“ auffressen. Das Tier wird allmählich zum „Untier“: das Untier Russland als Unmensch. Die auffällig oft auftretenden Überlegungen der Hauptprotagonistin über Skorpione, Schwäne, Delfine und andere Meereswesen assoziieren das Tier Russland als das mythologische Ur-Böse, das Seeungeheuer Leviathan, wodurch der Angreifer als staatliche Allmacht im Hobbes’schen Sinne gedeutet wird.

Maria Stepanova: „Der Absprung“. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp, Berlin 2024, 141 Seiten, 23 Euro

Die Handlung von „Der Absprung“ von Maria Stepanova folgt der Schriftstellerin M., die seit einiger Zeit im Berliner Exil lebt und zu einem Literaturfestival nach Dänemark reist. Von B. macht sich die Figur M. auf den Weg nach Stadt H. (wahrscheinlich Hamburg), wo sie umsteigen soll. Stattdessen fällt der Zug aus, Flüge gibt es keine. Ein Regionalzug nach F. (vermutlich Frederikshavn) soll Abhilfe schaffen, wo ein Taxi auf sie zum Endziel O. (vielleicht Odense?) warten würde.

Eine Panne nach der nächsten: Züge kommen zu spät oder fallen gänzlich aus, das Ladekabel geht verloren, ihr Handy-Akku ist leer, so dass der Kontakt zu den Veranstaltern abbricht. Am zweiten Bahnhof angekommen, ist niemand da, um sie zu empfangen. Stattdessen steigt sie in ein falsches Taxi ein. Es klappt einfach gar nichts. Auf einer ähnlichen Odyssee hatte sich seinerzeit ein russischer literarischer Vorgänger befunden: Timofei Pnin, ein stets tragikomischer, zum Unglück neigender Antiheld, ein russischer, liebenswerter, alter und feinsinniger Collegeprofessor während der 1950er Jahre reist durch die USA. Der Autor Vladimir Nabokov hatte seinen auf Reisen befindlichen Erzähler im Roman „Pnin“ mit N. abgekürzt, wie es Maria Stepanova mit M. tut. Auch Nabokovs Held kämpft auf der miss­glückten Reise mit seiner Muttersprache Russisch.

Austreten aus der Einheit mit dem fürchterlichen Tier-Untier Russland, dessen Sprache ihre Muttersprache ist

Nach anfänglichem Ärger über die Misslichkeiten der Reise stellt sich allmählich Ruhe ein: Anstatt in Panik zu geraten, fühlt M. eine seltsame Erleichterung darüber, dass niemand weiß, wo sie ist. Diese unerwartete Freiheit weckt in ihr den Wunsch, aus der Welt zu verschwinden. So verschwindet sie in den Zauber eines Zirkus, den sie in F. entdeckt, wo sie sich als Freiwillige als Ersatz für eine ausgefallene Artistin zu einem Zaubertrick bereit erklärt. So wird die Schriftstellerin zur „zersägten Jungfrau“. Die Generalprobe klappt gut, doch am nächsten Tag, am Tag der Aufführung, ist der Zirkus einfach weg. War es nur ein Traum? Die Reise entwickelt sich zu einem symbolischen „Absprung“, bei dem unklar bleibt, ob dies ein Akt der Befreiung oder der Verneinung ist.

Mit Eintritt in den Zirkus tritt sie aus; aus dieser Welt, aus der Rolle einer im westlichen Ausland lebenden Russin, aus der Einheit mit dem fürchterlichen Tier-Untier Russland, dessen Sprache ihre Muttersprache ist. Die Sprache der Erzählerin hingegen ist voller Witz und Ironie, bringt Einfühlungsvermögen für das Umfeld und die Details zum Ausdruck. Sie will die – oder besser ihre? – Sprache nicht den Lügnern, den Okkupanten, der Vergangenheit überlassen.

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