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Archiv-Artikel

Im Schwitzkästchen der Linken

Mit einem Manifest will Franz Müntefering die SPD in den Wahlkampf führen. Die Parteilinke kündigt Widerstand an, wenn es beim „Weiter so“ bleibt

AUS BERLIN ULRIKE WINKELMANN

Biegt man im ersten Stock des Kanzleramts rechts um die Ecke, hängen da die sechs gewesenen Bundeskanzler der Republik, von Adenauer bis Kohl, in Öl. Drei größere und drei kleinere Porträts umfasst die „Kanzlergalerie“ bislang. Sie sind so gehängt, dass genau ein Platz frei ist: der links außen zum Fenster hin.

Vieles spricht dafür, dass Gerhard Schröder diesen Platz lieber früher als später ausfüllen möchte und vor allem deshalb nach der Niederlage am Sonntag in Nordrhein-Westfalen Neuwahlen zum Bundestag ankündigte. Es war gestern kaum jemand in Berlin zu finden, der ernsthaft glaubte, Schröder wolle Neuwahlen, um danach weiterzuregieren. Der weithin gezollte Respekt vor seiner Entscheidung galt dem Umstand, dass er das Feld zügig für die Union freimacht. Damit erspart er nicht nur sich, sondern allen ein weiteres Jahr Nicht-Regierung gegen den unionsdominierten Bundesrat.

Natürlich behauptete Franz Müntefering gestern das Gegenteil. Am 142. Geburtstag seiner Partei eröffnete der SPD-Chef den Wahlkampf für die SPD und Schröder als Kanzler mit drei Hauptpunkten: erstens „Sozialer Fortschritt“. Hierunter seien vor allem Bildung und Innovation zu verstehen. Die Verkaufsformel „Erneuerung und Zusammenhalt“ gemahnt nicht von ungefähr an das SPD-Wahlversprechen anno 1998, „Gerechtigkeit und Innovation“.

Zum Zweiten die Agenda 2010, zu der „das eine oder andere dazu“ komme: zum Beispiel die geplanten Steuererleichterungen für Unternehmen. Hier werde – nur so weit griff Müntefering seine über Wochen betriebene „Kapitalismuskritik“ selbst auf – auch an die Verantwortung der Wirtschaft erinnert.

Zum dritten werde im Wahlkampf die Rolle „Deutschlands in der Völkergemeinschaft, in Europa“ sowie als „Friedensmacht“, die auch nach innen „tolerant“ sei, thematisiert. Zu diesen drei Feldern soll es ein „Wahlmanifest“ geben. Wer daran außer Schröder und Müntefering mitschreiben wird, soll heute Abend der Parteivorstand sagen. Das Wahlmanifest wird als eine Kurzfassung des Parteiprogramms auf einem vorgezogenen Parteitag der SPD verabschiedet.

Damit ist neben vielem anderen auch der seit einem Jahr gehegte Plan, bis zu einem Parteitag im November ein neues Parteiprogramm zu schreiben, gekippt. Zwar liege die Entscheidung beim Vorstand, sagte Müntefering. Doch dieser werde sich ihm bestimmt darin anschließen, dass man Manifest und Programm „nicht unnötig doppeln darf“.

Mit dem Manifest will die SPD über den „Kern“ der politischen Fragen streiten, sagte Müntefering. Erstmals, aber doch nur am Rande nannte er hier den Gegensatz, mit dem die SPD sich vor allem von der Union abzugrenzen haben wird: „Bürgerversicherung oder Kopfpauschale“, also mehr Umverteilung in der Sozialversicherung – oder freie Bahn für deren Privatisierung.

Eine Kabinettsumbildung schlossen Müntefering wie Regierungssprecher Béla Anda gestern aus. Frische Minister-Gesichter brauchen die Wähler also bis zum September nicht zu erwarten – bestenfalls Personalversprechen, die der amtierenden Riege so wenig wie möglich schaden. Was konkrete Gesetze angeht, so behauptete Anda zwar, für alles schon auf den Weg Gebrachte – Antidiskriminierungsgesetz, Steuersenkungen, Pflegereformkonzept und Haushaltsplan 2006 – bleibe der „Zeitplan so wie beschlossen“. Doch Müntefering stellte dies in Frage: Es sei sinnlos, „Dinge zu beginnen, die wir in dieser Legislatur nicht zu Ende führen können“.

Das Wahlvolk soll antworten: „Wer soll bestimmen – soll das Gerd Schröder oder soll das Frau Merkel?“, deklamierte der SPD-Chef. Die Regierung jedenfalls wolle nicht mehr „im Schwitzkasten vom Bundesrat oder von Konstellationen welcher Art auch immer“ stecken.

Mit diesen „Konstellationen“ waren die SPD-Linken gemeint. Die werden von vielen Seiten nun für des Kanzlers Entscheidung haftbar gemacht. Damit jedoch sehen sie sich selbst überschätzt. Zwar hatte etwa das Präsidiumsmitglied Andrea Nahles angekündigt, sie und andere würden eine Wahlniederlage nutzen, um mehr linke Inhalte im Auftritt der Partei zu platzieren. Und Ottmar Schreiner hatte gar gedroht, die Fraktion mit anderen Getreuen zu verlassen und dadurch die knappe rot-grüne Mehrheit im Bundstag kaputtzumachen.

Doch gestern wies Nahles das „groteske Gerücht“ zurück, wonach etwa ein Brief von ihr und einigen Landeschefs an den Kanzler eine Rolle bei dessen Entscheidung gespielt habe. Der Brief sei „erledigt“. Was nicht heißt, dass die Linken nun von ihren Forderungen abgehen: Wenn Müntefering bei seiner Präsentation eines Wahlkampfs dicht an Kanzlerkurs und der Agenda 2010 bleibe, sagte Nahles zur taz, „dann läuft’s eben auf eine Konfrontation hinaus“. Nur mit den von Müntefering genannten drei Punkten könne die SPD ihr soziales Profil nicht schärfen. „Und ohne Polarisierung bringen wir doch auch die CDU nicht auf die Beine, um Ohrfeigen anzusetzen.“ Klar sei, dass „eine Strategie des ‚Weiter so‘ nicht mobilisierungsfähig“ sei: „Das Korsett 2010 ist zu eng – wir müssen es nicht ablegen, aber an einigen Stellen aufschnüren.“

Auch Schreiner erklärte es zur „Kernforderung“, dass die SPD nun mit scharfem sozialpolitischem Profil angreife. Von Fraktionsaustritt war bei ihm gestern keine Rede mehr, von Konfrontation auf der heutigen Vorstandssitzung sehr wohl. Er nannte ein Wachstums- und Beschäftigungsprogramm, eine „klare Absage an die Kopfpauschale“ und Arbeitnehmerrechte.

Wenn Müntefering und Schröder gedacht haben sollten, mit dem Neuwahlen-Coup auch die Linke zu disziplinieren, so sind sie damit jedenfalls noch nicht weit gekommen. Sollten sie darauf setzen, dass die Linken die Sozialdemokratie für die Oppositionszeit neu erfinden – da dürften sie dabei sein.