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Archiv-Artikel

Eine Entscheidung, die die Politik verändert

USA Drei Tage lang hat das Oberste Gericht Argumente zur Verfassungsmäßigkeit der Gesundheitsreform gehört

Dürfen die BürgerInnen zu einer Krankenversicherung verpflichtet werden?

AUS WASHINGTON DOROTHEA HAHN

„Was hat es mit Freiheit zu tun, wenn Menschen gegen ihren Willen zu einer Krankenversicherung gezwungen werden?“, fragt einer. „Möglicherweise werden gesunde junge Leute demnächst verpflichtet, eine Bestattungsversicherung abzuschließen“, kommentiert ein anderer.

Die Kommentare stammen nicht von der Straße, sondern aus dem Obersten Gericht der USA. Sie fielen während des am Mittwoch in Washington zu Ende gegangenen dreitägigen Hearings, das überprüfen soll, ob die Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama verfassungskonform ist. Im Obersten Gericht sitzen neun RichterInnen auf Lebenszeit. Fünf von ihnen sind von republikanischen Präsidenten nominiert worden, vier von Demokraten. Der Verlauf ihres dreitägigen Hearings lässt kaum Hoffnung auf eine salomonische Lösung aufkommen. Er deutet eher auf eine Fortsetzung der ideologischen Schlachten hin, die sich rechte und linke US-AmerikanerInnen seit drei Jahren liefern.

Die beiden zentralen Fragen, auf die das Oberste Gericht voraussichtlich im Juni antworten wird, lauten: Dürfen die BürgerInnen verpflichtet werden, eine Krankenversicherung abzuschließen? Und darf die Bundesregierung die einzelnen Staaten zu einer Gesundheitsversorgung für ihre sozial schwächsten BewohnerInnen zwingen? Beide Fragen ergeben sich aus dem 2.700 Seiten dicken Gesetz, das Präsident Obama im Jahr 2010 dem Kongress abgerungen hat. Wenn das Gesetz in Kraft bleibt, würden in den nächsten Jahren von den bislang rund 50 Millionen überhaupt nicht krankenversicherten BürgerInnen der USA rund 30 Millionen zumindest minimal versichert werden. Gegen die in dem Gesetz enthaltenen Verpflichtungen haben unter anderem 26 Bundesstaaten geklagt und damit für das am Montag dieser Woche eröffnete Verfahren im Wahljahr gesorgt.

Das Urteil der Richter, darin sind sich fast alle Beteiligten einig, wird die Präsidentschaftswahlen im November beeinflussen. Ganz egal, ob es die Gesundheitsreform von Barack Obama teilweise, ganz oder überhaupt nicht zu Fall bringen wird. Aber in welche Richtung dieser Effekt gehen wird, ist unklar. Sollte das Gesetz kippen oder ausgehöhlt werden, könnte das sowohl einen mobilisierenden Ruck in den demokratischen Reihen auslösen als auch denselben Effekt aufseiten der RepublikanerInnen bewirken.

Während die neun Weisen in dem Obersten Gericht drei Tage lang ExpertInnen hörten, versammelten sich zu Füßen des Gebäudes direkt hinter dem Kongress Tausende von GegnerInnen und BefürworterInnen des Gesetzes. „Ich will nicht auf einer Warteliste sterben“, steht auf dem Plakat, das ein Rentner aus Virginia hochhält. Zwar deutet zum Leidwesen der linken Basis wenig darauf hin, dass das Gesetz die Kostenexplosion im US-Gesundheitswesen dämpft, doch dieser Rentner sagt, dass die Verdienstmöglichkeiten für Ärzte sinken und es daher bald nicht mehr genügend ÄrztInnen geben werde.

Neben dem Rentner steht ein Mann in dem gelben T-Shirt der Tea-Party-Bewegung an einem Mikrofon und dankt in einem Gebet dafür, dass die USA den Kalten Krieg überstanden hätten. Der Redner Benjamin Grace hat in den 80er Jahren Bibeln in die Sowjetunion geschmuggelt und eine Weile in Tallinn gearbeitet: als „protestantischer Missionar“. Heute kämpft er in seinem eigenen Land gegen die „sozialistischen Gefahren“. Dazu zählt er neben dem Gesundheitsgesetz von Obama, mit dem er gezwungen werden könnte, den „Holocaust von Abtreibungen“ mitzufinanzieren, auch das „europäische sozialistische Modell“.

Am Ende des letzten Tages des Hearings zieht eine heisere schwarze Frau ihre Kreise um die Gruppe von GegnerInnen. „Respektiert das Gesetz dieses Landes“, ruft Shirley Washington immer wieder. Auch sie ist Christin. Und trägt ein dickes goldenes Kreuz um den Hals. Ursprünglich ging ihr die Gesundheitsreform nicht weit genug. Doch jetzt verteidigt sie ihren Präsidenten gegen „Rassisten, die dieses Land mit Hass und Sozialneid spalten wollen“.