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Archiv-Artikel

Wir sehen schwarz

Es war ja schon sprichwörtlich geworden: Kohl sitzt alles aus. Und wir mussten es ihm glauben, weil er uns ewig schien. Bei unserer ersten Bundestagswahl konnten wir ihn endlich stürzen. Wie sich jetzt zeigt: Gebracht hat es nichts

VON SOLVEIG WRIGHT

Meine Schwester wurde am 26. September 1998 volljährig. Am nächsten Tag stürzte sie Helmut Kohl. Das war wichtiger als der Führerschein oder die erste selbst geschriebene Entschuldigung für den Sportunterricht. Es war für unsere Generation die erste Bundestagswahl und das allererste Mal, dass wir das Gefühl hatten, etwas beeinflussen zu können.

Die Pubertät war einfach langweilig in der Ära Kohl. Egal ob man in der Antifa war oder nicht, bei den Jusos, gegen Kernkraft oder sonst irgendwie politisch engagiert: Kohl bestand. Es machte einfach keinen Unterschied. Der Ostblock ging unter, Kohl nicht. Er kam an die Macht bevor wir eingeschult wurden. Wir hatten zwar mal davon gehört, dass es Bundeskanzler gab, die nicht Kohl hießen, aber erlebt hatten wir es nicht. Kohl war einfach da.

Wir wussten es besser

Er hatte auch Fans in unserem Alter. Sie sprachen davon, dass alles gleich bleibe, wenn man Kohl wähle, und da es ihnen gut gehe, sei Kohl doch okay. Es war also völlig egal, dass die Rechten wieder kamen, der Osten unterging und wir lernen mussten, was „Rezession“ heißt, zumindest wenn wir die Nachrichten verstehen wollten. Wer Kohl gut fand, wollte nicht über den Gartenzaun schauen, sich engagieren. Meistens noch nicht mal Zeitung lesen.

Ich erinnere mich an einen jungen Mann, etwa 17 Jahre alt, der davon sprach, dass Kohl eine Respektperson sei und er ihn deswegen gut finde.

Wilde Jugend.

Wir waren sicher, dass wir es besser wussten. Wir hatten Ideen und Zeit und Energie. Aber wir konnten nichts tun. Der Großteil, der politisch war, konnte nichts ausrichten. Die Macht war in der Hände der Angepassten, der Passiven. Sie wollten nur eine Schrankwand und ihren eigenen Benz. Sie waren wenige, aber sich waren wie die Alten. Natürlich nicht alle Älteren, aber die Mehrheit. Offensichtlich. Kohl gewann Wahl nach Wahl. Was die Alten da verzapft hatten, war nicht zu verstehen und nicht zu rechtfertigen.

Irgendwann wurde es sogar langweilig, gegen den ewigen Kanzler zu sein. Selbst Kohl-Witze wurden schal. Kohl war Spitzengardine und am Samstag in der Auffahrt den Benz waschen – bloß nichts ändern, auch wenn alles vor die Hunde geht. Kohl waren die Spießer. Kohl war das personifizierte Phlegma. Kohl war die Vorstadt. Kohl war ein System.

Dann kam Schröder. Lafontaine war mal ein Hoffnungsträger gewesen, aber auch er hatte nichts gegen die totale Passivität ausrichten können. Bei Gerhard sah es plötzlich so aus, als könnte es klappen. Die Probleme waren inzwischen auch so groß geworden, dass immer mehr Leute gemerkt hatten, dass es so nicht weitergehen konnte. Es gab wirklich zu viele Arbeitslose. Der Haushalt war selbst mit Goldumbewertung nicht zu retten. Im Osten war wirklich alles zu spät. Unsere Zukunft stand wirklich auf dem Spiel, und das sollte nicht sein.

Mit Gerhard kamen die Grünen. Joschka war toll. Quirlig, spritzig und rhetorisch wesentlich witziger als Kohl, dessen Aussprache seinem Programm entsprach. Außerdem hatte Joschka keinen Abschluss und einen Spitznamen. Eine tolle Abwechslung zu „Für Sie immer noch Herr Dr. Kohl!“.

Es sah aus, als könnte jemand endlich was machen, als gebe es eine Alternative. Es gab jemanden, der zwar leider nicht alles anders machen wollte, aber wenigstens vieles besser. Es sollte Doppelpässe geben. Die Familie war nicht mehr die Vater-Mutter-Kind-Familie, in der Mami natürlich daheim blieb während Papi Mammuts jagte. Die Arbeitslosen sollten neue Arbeit bekommen, das Haushaltsloch sollte gestopft werden. Man würde nicht so weitermachen wie bisher. Die Vorstadt wurde auf ihren Platz verwiesen. Spitzengardinen waren nicht mehr das Ideal. Der Gerd war viermal verheiratet, hatte nur fremde Kinder großgezogen, und es war uns einfach egal. Es sollte nicht mehr darum gehen, wie man sein Leben lebt, wer wann Kinder bekommt, wen heiratet oder was sonst noch die „geistig-moralische Wende“ war. Nun sollte die Reform kommen und mit ihr die Möglichkeit, zu leben, wie man wollte. Die Spitzengardinen sollten abgerissen werden, damit keiner mehr dahinter hervorlugen und urteilen konnte. Das war es, was wir wollten. Eine Zukunft, in der Platz für alle war, egal ob sie ehemalige Chemikanten aus Leuna, schwul oder ihre Eltern aus der Türkei eingewandert waren. Und wir wollten nie wieder die alten Gesichter sehen: Kanther, Kohl, Merkel und die anderen.

Wir haben alle bis zum Schluss nicht geglaubt, dass es möglich war. Eltern wurden bearbeitet, bloß nicht CDU zu wählen. Wir mussten uns kneifen, als es so weit war. Bundeskanzler Gerhard Schröder klang seltsam. Es klang neu. Es klang gut.

Das rot-grüne Projekt war für uns. Wir legten auch großen Wert auf das Grün, darauf, dass die sozialdemokratische Spießigkeit mit grünen Ideen bombardiert wurde. Multikulti, alternative Lebensformen, Atomausstieg war ja ohne die Grünen undenkbar. So wollten wir vertreten werden.Wir wollten viel mitmachen. Wir hatten ja auch von Tony Blair gelernt und waren für die neue Sozialdemokratie. Wenn das am Ende ein Land ergeben könnte, das nicht im Muff erstickt, dann wollten wir auch Chancen gegen Solidarität eintauschen. Schließlich hatte die Solidarität ja bisher auch nicht viel gebracht. Irgendwas sollte sich ändern. Wenn wir die Chancen bekämen, waren wir bereit, den Rest zu machen.Wir hatten uns damit nicht leicht getan, aber es erschien uns notwendig.

Wir haben viel verziehen

Entsprechend haben wir dem rot-grünen Projekt viel verziehen. Die Doppelpässe kamen nicht, und auch die Homoehe war mehr eine Farce. Schilys Innere Sicherheit war nur schwer von der Kanthers zu unterscheiden. Schwerer zu ertragen waren die Arbeitslosen und Haushaltslöcher. Denn auf die Einschnitte folgte keine Chance. Keiner von uns verstand, wie das genau mit uns zusammenhing, aber wir waren sicher, dass es für die Zukunft nicht gut war.

Ungläubig erlebten wir, wie immer mehr Bundesländer schwarz wählten. Wie sollte es denn weitergehen, wenn die Wähler der Reform ständig Steine in den Weg legten? Jede Reform wurde abgeschwächt und differenziert, bis sie keiner mehr verstand. Immer forderten die Alten irgendwelche Zugeständnisse. Aber die Alten waren doch schon mal gescheitert.

Alles besser als die Union

Und außerdem war doch beim Spendenskandal endgültig klar geworden: Die Schwarzen waren Verbrecher. Sie waren keine Alternative. Sie hatten sich genauso nur um sich gekümmert wie ihre Wähler. Wir wünschten ihnen das Schicksal der Democrazia Cristiana: die Bedeutungslosigkeit. Außerdem hatten sie doch über Jahre so viel verbockt, dass man auch von den Neuen keine Wunder erwarten konnte. Das würde schon werden, wenn nur die Schwarzen endgültig die Alten austauschten, mitarbeiteten, wenn nur Kohl und sein System endlich besiegt waren. Daran hielten wir uns fest.

Bei der Bundestagswahl 2002 sprachen wir uns ab, wer Rot wählt und wer Grün. Es war klar, dass wir nicht den Ausschlag geben. Aber Rot ging nicht ohne Grün. Wenigstens hatten wir uns dann nichts vorzuwerfen. Richtig wohl war uns dabei nicht. Aber Stoiber, Spezi von Strauss, Ausländerfeind und Spießer par excellence, direkt aus der alten Zeit – den galt es mit allen Mitteln zu verhindern. Alles war besser als das. Zumal auch er nicht viele Ideen hatte. Wirtschaftlich klang er der Gegenseite sehr ähnlich. Aber gesellschaftlich war er ein Graus. Seine erwachsene Tochter machte für ihn Wahlkampf. Sie erzählte, dass sie verstehen könne, dass ihre Eltern ihr immer verboten hätten, Männer mit nach Hause zu bringen. Schließlich hätten sie sie nur beschützen wollen. Das klang sehr nach Fünfzigerjahren. Nach Vorstadt. Nach Spitzengardine. Da musste Rot-Grün besser sein.

Jetzt ist es vorbei. Bei den Schwarzen hat sich nichts verändert. Roland Koch ist ein gutes Beispiel: Ins Amt gekommen mit einer Anti-Ausländer-Kampagne, begeistert von Helmut Kohl und Zögling von Manfred Kanther, dem verurteilten Sheriff. Manfred Kanther will ja auch nicht einsehen, dass sein persönlicher Kampf gegen die Mächte der Finsternis keineswegs dem Gemeinwohl entspricht. Seinem Parteifreund und Mitarbeiter Roland Koch kann man nicht beweisen, dass er davon wusste. Kohl hat sich seinerzeit mit „Blackouts“ rausgeredet. Auch wer damals nicht schon dabei war, tradiert das Alte.

Wir sind sieben Jahre älter, finden keine Arbeit, und die Haushaltslöcher klaffen noch immer. Ändern sollen es jetzt die, die es schon vor Rot-Grün nicht hinbekommen haben. Sie drehen jetzt schon wieder an den Reformen rum, wollen, wie man jetzt hört, Hartz IV abschaffen und zurück in die gute alte Zeit. Sie spielen wieder mit den Ängsten der Bürger (sei es vor der Armut oder den Terroristen, die ja irgendwie immer aus dem Ausland sind) und wollen doch nur wieder den dickeren Dienstwagen. Wir glauben nicht daran, dass sie ein „neoliberales“ Programm haben. Sie können sich doch noch nicht mal auf eins einigen. Ändern wird sich nichts.

Und Kohl? Wird wieder gefeiert; von seinem Mädchen Merkel zum Beispiel. So als wäre nichts gewesen. Von wegen gestürzt. Meine Schwester wählt nicht mehr mit. Sie lebt nicht mehr in Deutschland.

Solveig Wright, 27, ist Politikwissenschaftlerin auf Arbeitssuche