: Gezeitenwechsel
Die CDU wird in Deutschland nun das anpacken müssen, was Regierungen anderswo schon längst erreicht haben: eine soziale Politik jenseits der Sozialpolitik zu entwerfen
Die Wahl in NRW hat ein politisches Beben ausgelöst. Die Ursachen der tektonischen Verschiebungen liegen tiefer, als es die Euphorie der einen oder die Depression der anderen vermuten lassen. Es könnte der Anfang sein vom Ende der Sozialdemokratie, wie wir sie kennen. Ein Linksbündnis wird entstehen, als inner- wie außerparlamentarische Opposition, als Projektion der Sehnsüchte nach einer ganz anderen Politik, die weit in das rot-grüne Milieu hinein- und darüber hinausreichen. Sie alle vereint die Abwehrschlacht gegen das, was sie Neoliberalismus nennen. Derweil wird eine Regierung Angela Merkels mit Zustimmung der Wähler das deutsche Sozialmodell neu definieren: Es wird britischer und skandinavischer, dezentraler und bürgerschaftlicher, vor allem aber zukunftsfähig werden.
Was wir erleben und an den Wahlergebnissen ablesen können, ist mehr als ein Regierungs- oder Generationen-, es ist ein Gezeitenwechsel. Die politischen Strömungen suchen sich eine neue Richtung. Die vagabundierenden Ängste und Hoffnungen, die umherstreunen wie herrenlose Hunde, wenden sich von den alten Herren und Hirten ab und suchen neue Sicherheiten und Orientierungen, an denen sie festmachen können. Die sozialen Fragen, Ängste und Chancen wandern aus dem Gehege der traditionellen Sozialpolitik, aus den Domänen der sozialen Beschützer heraus in das freie, aber zu gestaltende Feld der Bildungs- und Wirtschaftspolitik, der Arbeitsmarkt- und der Familienpolitik. Und die Menschen spüren und wissen das inzwischen auch.
Wer arbeitslos ist oder in einer prekären Existenz lebt, ist an Arbeit interessiert und weniger an Arbeitnehmerrechten. Eltern wollen für ihre Kinder nicht Gleichheit, sondern bessere Chancen durch bessere Schulen. Arbeitslosigkeit ist leichter zu ertragen, wenn sie wie in anderen Ländern ein paar Wochen währt und nicht wie in Deutschland für jeden zweiten Arbeitslosen ein Jahr und länger. Wem es schlecht geht, der will kein Mitleid, sondern dass sich seine Lage bessert, notfalls auch durch eine bittere Medizin.
Eine scheinbar paradoxe Einsicht bricht sich Bahn: Es macht keinen sozialen Sinn mehr, einen immer kleiner werdenden Kuchen immer gerechter zu verteilen. Anders ist ja nicht zu erklären, dass Wahl um Wahl die CDU zur stärksten Partei bei den Arbeitern und Arbeitslosen gewählt wird, eine Partei, von der man immerhin so viel weiß, dass sie mehr und nicht weniger Veränderungen bringen wird.
Die fünf Millionen Arbeitslosen werden von der Mehrheit der Wähler und den meisten Betroffenen nicht länger als eine soziale Frage interpretiert, und das ist auch gut so. Was bisher in Fachzirkeln ziemlich unbestritten war, ist inzwischen zum Wahlen entscheidenden Allgemeinwissen einer Mehrheit geworden. Es ist eine Einsicht aus einer leidvollen Erfahrung: Der Sozialstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Je nötiger man ihn braucht, umso weniger ist auf ihn Verlass. Soziale Fragen suchen keine – im engen Sinne – „sozialen“ Antworten mehr, sondern eine bessere Politik auf ganz anderen Gebieten. Das soziale Schicksal des Einzelnen und des Landes entscheidet sich jenseits der Sozialpolitik.
Und so vollzieht sich vor unseren Augen ein großflächiger Vertrauenstransfer: weg von Personen, Parteien und Politiken, die von sozialer Gerechtigkeit zwar reden und eine „soziale Politik“ einfordern, dies alles aber in den alten Farben, Kostümen und Strategien. Das Vertrauen wandert hin zu Positionen, die Veränderungen damit begründen können, dass es am Ende mehr Menschen besser gehen wird als gegenwärtig.
Der Wahlkampf wird deshalb weder ein Richtungs- noch ein Lagerwahlkampf. Es geht darin um Verändern oder Bewahren, um begründete Hoffnungen auf bessere Zeiten oder um die Verteidigung der sozialen Errungenschaften. Vor allem aber wird es gehen um das Grundgefühl, ob es anders werden muss, wenn es besser werden soll – und in welcher Richtung, bei welcher Partei dieses Grundgefühl am besten aufgehoben ist. Das Zutrauen zu den Christdemokraten wächst nicht aus dem Kleingedruckten. Doch wer will, kann auch so wissen, was den Unterschied ausmacht.
Eine Kanzlerin Merkel würde eine Mehrheit in Bundestag und Bundesrat politisch ganz anders nutzen als die Regierung Kohl/Blüm vor gut zwanzig Jahren. Die Gesundheitsreform wird einen Einstieg in die Steuerfinanzierung bringen. Eine Föderalismusreform wird die Kompetenzen von Bund und Ländern entflechten, die Länder stärken und den Staat vom Kopf auf die Füße stellen. Die aktive Arbeitsmarktpolitik wird wohl in die Kommunen gehen, wo sie auch besser aufgehoben ist. Mehr Wettbewerb und sozial verträgliche Studiengebühren werden Einzug halten in die Hochschulen und vielleicht auch mehr Selbständigkeit in die Schulen. Im Bereich Wirtschaft und Arbeitsbeziehungen wird es nachgeholte Reformen geben, die sozialdemokratische Regierungen anderswo schon vor zwanzig Jahren auf den Weg gebracht haben. Die sozialen Transfers für jene, die arbeiten können, werden wohl weiter sinken, was aber nicht bedeuten kann und muss, dass sie weniger Geld in der Tasche haben, wie das britische Beispiel zeigt.
Alles in allem wird eine Regierung aus CDU, CSU und FDP wichtige politische Felder neu bestellen und dabei auch ernten, was in der rot-grünen Koalition gesät worden war. Der deutsche Sozialstaat, den Experten wie der Soziologe Gösta Esping-Andersen zu den konservativ-kontinentalen Varianten des europäischen Modells zählen, wird einen tiefgreifenden Wandel erleben, mit mehr nordischen, aber auch mit mehr angelsächsischen Elementen.
Es könnte sogar sein, dass etwas Neues entsteht, in dem die normativen Kerne der drei europäischen Sozialmodelle „aufgehoben“ sind zu einem neuen europäischen Modell des Wohlfahrtskapitalismus, das dann nach außen wieder Strahlkraft entwickelt. Der deutsche Sozialstaat (beitragsfinanziert und transferlastig, konservativ und obrigkeitsstaatlich) ist dazu offensichtlich nicht mehr länger in der Lage.
Ein neues europäisches Sozialmodell, um das uns andere beneiden mögen? Es gibt Alternativen im Kapitalismus. Aber es gibt keine Alternative zum System. Betrachtet von der außerirdischen Umlaufbahn einer radikalen Systemkritik mag eine Wahl ohne Wahl auf uns zu kommen, mit Mini-Alternativen höchstens innerhalb einer „neoliberalen Einheitspartei Deutschlands“, herausgefordert nur von Oskar Lafontaine. Utopien liegen bekanntlich immer auf einer Insel, ohne Brücken zum politischen Festland. Auf der Insel gibt es Gleichheit und Gerechtigkeit, weder Ausbeutung noch Unterprivilegierte, aber es herrschen dafür auch gleiche Armut und Kontrolle für alle, weder Entwicklung noch individuelle Freiheiten.
Auf dem Festland werden derweil Übergänge gestaltet, und sie werden nicht ohne Schmerzen sein. Es wird Opfer geben, aber es könnten weniger sein als heute, nicht immer die gleichen und nicht für so lange Zeit. Es muss nicht so viele Arbeitslose geben; nicht so viele Jugendliche, die ohne Abschluss keine Perspektive haben; nicht so viele Familien und allein Erziehende, die in Armut leben, weil sie keine Betreuung und keine Arbeit haben. Politik macht einen Unterschied. Aber es braucht dazu, gerade um der sozialen Qualität des Ganzen willen, mehr und anderes als eine nachsorgende Sozialpolitik.
Es werden politisch und konzeptionell spannende, aber auch unberechenbare Zeiten. Als Günter Schabowski damals den Zettel aus der Tasche zog, konnte er nicht wissen, was er auslösen würde: das Ende der DDR und des real existierenden Sozialismus. Aber es war ein Ende, das auch ein Anfang war: für politische Freiheit wie für persönliche Abenteuer und Traumata wie auch für organisierte Kriminalität. Doch es gab keine Alternative.
Als Franz Müntefering am vergangenen Sonntag den Zettel aus der Tasche zog, konnte er nicht wissen, was er auslösen würde: das Ende von Rot-Grün und des Versuches, das deutsche Modell durch halbherzige Reformen und mit einer widerspenstigen Partei noch einmal zu retten. Doch das Ende könnte auch heute ein neuer Anfang werden: auf den Trümmern zerbrochener Hoffnungen eine soziale Architektur für das 21. Jahrhundert zu entwerfen, mit stabilen Fundamenten und vielen Wohnungen. Es gibt dazu wohl keine Alternative.
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