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Archiv-Artikel

„Im Gehirn verdrahtet“

FALL LENA In Kiel, Hannover und Hamburg gibt es Ambulanzen für Menschen, die sich pädophile Neigungen eingestehen. Der Verein Dunkelziffer verlangt, die Opfer besser im Blick zu behalten

Für die Patienten kommt es darauf an, ihr Schicksal anzunehmen und Risikosituationen zu erkennen

Pädophile, die sich ihrer gefährlichen Neigung bewusst sind, können sich seit Mittwoch auch in Hamburg Hilfe holen. Am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) wurde der sechste Standort des Forschungs- und Präventionsprojekts „Dunkelfeld“ eröffnet. Weitere Anlaufstellen im Norden, bei denen sich Männer freiwillig und vertraulich behandeln und beraten lassen können, gibt es in Kiel und Hannover.

Der 18-jährige David H., der in Emden die elfjährige Lena ermordet haben soll, gehört einerseits zur Zielgruppe des Projekts, weil er nach einem gewissen Vorlauf selbst auf sein Problem aufmerksam gemacht hat. Durch seine Anzeige bei der Polizei geriet er jedoch kriminalistisch gesprochen ins „Hellfeld“ statistisch erfasster Taten. Für solche Fälle gibt es an den sexualmedizinischen Instituten der Universitäten schon seit vielen Jahren therapeutische Angebote.

Die Erfolgsaussichten seien gar nicht schlecht, sagt Hartmut Bosinski, Professor für Sexualmedizin am Uniklinikum Kiel. Hellfeld-Studien zufolge würden nur 20 Prozent derer, die sich behandeln lassen müssten, rückfällig. Eine vertiefte Untersuchung, bei der die Patienten nach weiteren, nicht bekannt gewordenen Taten gefragt wurden, habe allerdings eine Rückfallquote von 50 Prozent ergeben.

„Beim Dunkelzifferprojekt gehe ich von der Logik her davon aus, dass die Rückfallquote geringer sein wird“, sagt Bosinski. Weil das Projekt aber erst 2005 in Berlin angelaufen ist, ließen sich dazu noch keine empirisch fundierten Aussagen machen. Eine geringere Rückfallquote bei Dunkelziffer erwartet er deshalb, weil die Patienten hier selbst die Initiative ergreifen, ihre Krankheit anzugehen – eine gute Voraussetzung für eine Therapie. Häufig litten Pädophile unter einer Wahrnehmungsverzerrung und müssten erst lernen, sich in die Perspektive ihrer Opfer zu versetzen, sagt der Mediziner: „Die denken gar nicht darüber nach, was das mit den Opfern macht.“

Bosinski zufolge ist die pädophile Neigung „im Gehirn verdrahtet“. Für die Patienten komme es deshalb darauf an, ihr Schicksal anzunehmen, es nicht auszuleben und Risikosituationen zu erkennen. Bosinski plädiert für eine „Entdämonisierung“: Diese nämlich würde Pädophile ähnlich wie Alkoholiker in die Lage versetzen, offen mit ihrer Krankheit umzugehen – und dem Risiko auszuweichen, weil sie es ansprechen können. Ein Problem bleibe, dass die Patienten ihre Sexualität nicht leben könnten. Um es ihnen zu ermöglichen, damit fertigzuwerden, ist nach Bosinskis Meinung eine Unterstützung durch Medikamente nötig.

Auch aus der Sicht Simone Bauers vom Hamburger Verein Dunkelziffer, der sich vor allem um die Opfer sexualisierter Gewalt kümmert, sind Therapieprogramme die einzige Chance für die Täter. Sie warnt allerdings davor, den Blick zu sehr auf die Täter zu richten. Stattdessen müsse gefragt werden: „Was braucht die Gesellschaft, was brauchen die Kinder?“ Für den Fall Lena gelte schlicht: „Einer Anzeige muss nachgegangen werden“, sagt Bauers – „und zwar zügig.“  GERNOT KNÖDLER

Inland SEITE 6